Dienstag, 3. Dezember 2013

Weihnachtsmond - Eine winterliche Geschichte


Tatarata - pünktlich zur kalten Jahreszeit ein Wiedertreffen mit den Figuren aus "Wintermond"! Ich wünsche Euch eine schöne Adventszeit, mit einem warmen Plätzchen und viel Muse zum Lesen. Denn dafür wurde der Winter schließlich erfunden, nicht wahr?



Weihnachtsmond 

von
Tanja Heitmann


Die Einkerbung zwischen Davids Augenbrauen wurde tiefer mit jeder neuen Zahlenreihe, die er in den Taschenrechner tippte. Düster stierte er das notierte Ergebnis an, dann zerriss er das Blatt Papier mit einem Fluch in zwei Teile. Fast wäre Jannik auf halbem Weg umgedreht, aber da sah David auf und nickte ihm zur Begrüßung zu. 
      Ein Blick aus den vertrauten blauen Augen genügte, um Jannik sein Unbehagen vergessen zu lassen. „Hi, gibst du dir Mühe, weihnachtliche Stimmung zu versprühen?“, fragte er leichthin.
Erneut heulte Janniks Wolf auf, ein Warnruf. Der zweite übrigens, seit der Junge die Küche des Palais betreten und David über einem Stapel Rechnung brütend vorgefunden hatten. Das Licht der Leuchtröhren ließ Davids eh schon markanten Gesichtszüge noch stärker hervortreten und verpasste seiner Haut einen ungesunden Anstrich. Fast als wäre ihm übel ... Den Plastiktannenbaum mit der im Herzschrittmachertempo blinkenden Lichterkette, den Jannik in einer Anwandlung von Feierlichkeit auf den Resopaltisch gestellt hatte, war in eine Ecke hinter seinem Rücken verbannt worden. Nun ja, es gelang dem guten Stück mit dem Knick im Stamm und der Staubschicht, die an dreckigen Schnee erinnerte, eh nicht, weihnachtliche Stimmung zu verbreiten.
Zögernd trat Jannik an den Tisch, während der Wolf in seinem Inneren einen nervösen Tanz hinlegte. Dem Rudeltier gefiel ein gestresster Anführer gar nicht, aber Jannik sah in David keinen Anführer, sondern seinen Freund, der versuchte, aus Hagens doppelt und dreifacher Buchführung schlau zu werden, bevor ihnen der Palais unter dem Hintern weggepfändet wurde. Jannik erinnerte sich an den Beutel mit Lebkuchen, den er im Vorbeigehen von einem der Stände auf dem Weihnachtsmarkt stibitzt hatt. Zwar waren nur noch ein paar Reste drin, weil sein Hund Burek die meisten Lebkuchen erbettelt hatte. Aber sein Kumpel sah danach aus, als könnte er etwas Süßes vertragen. Der Blick jedoch, den er auf die Tüte warf, ließ Jannik seine Großzügigkeit sofort bereuen.
„Bitte sag mir, dass du das Zeug nicht hast mitgehen lassen“, sagte David leise. „Das fehlt mir bei dem ganzen Ärger: ein überführter Dieb, den ich vom Polizeirevier abholen darf.“
Entgegen dem ängstlichen Wimmern seines Wolfes schnappte Jannik sich einen Stuhl und setzte sich gegenüber seinem Freund hin. „Mach mal halblang. Auf dem Weihnachtsmarkt ist der Teufel los, die halbe Stadt ist unterwegs, um noch irgendwelchen Krams für den Heiligen Abend zu organisieren. Immer auf den letzten Drücker. Die Standbesitzer machen heute dem Umsatz ihres Lebens, da fällt so eine milde Gabe gar nicht weiter ins Gewicht.“
„Ich glaube, du hast die Sache mit den Geschenken an Weihnachten irgendwie nicht richtig begriffen“, schoss David zurück. Seine Stimme verriet jedoch, dass er mit den Gedanken bereits woanders war. Seine Finger wirbelten den Bleistift herum und eine Sekunde später war er erneut ins Zahlengewirr vertieft.
Nach und nach fielen Davids Bewegungen zunehmend spärlicher aus, bis er letztendlich stocksteif dasaß. Janniks Wolf, der sich in der Stille wieder hervorgewagt hatte, warf einen Blick auf seinen Anführer und verzog sich schlagartig mit eingezogener Rute in den tiefsten Winkel von Janniks Seele. Jetzt erkannte der Junge es auch: die Schlagader an Davids Hals war deutlich hervorgetreten und pulsierte wild. Kein gutes Zeichen, gestand Jannik sich ein und fing an, unruhig auf dem Stuhl herumzurutschen. Als David einen Strich unter das Ergebnis seiner Rechnerei setzte und die Mine mit einen Knacken abbrach, wäre Jannik vor Schreck fast aufgesprungen und geflohen. Stattdessen entkam ihm nur ein leises Wimmern, das mehr nach einem verängstigten Tier als nach einem Mensch klang.
            Bei diesem Laut zuckte David zusammen und blickte auf. Schlagartig verschwand der bedrohliche Ausdruck von seinem Gesicht. Zurück blieb ein junger Mann mit zerwühltem dunklem Haar, der in den letzten Nächten eindeutig zu wenig Schlaf abbekommen hatte – Janniks engster Freund.
„Wir müssen zusehen, dass wir diesen verrottete Kasten loswerden, bevor es uns auffrisst“, sagte David und rieb sich die Augen.
        Jannik zog seinen Tabakbeutel hervor, nur um ihn gleich wieder wegzustecken. Seine Hände zitterten verräterisch, und obwohl Davids feinen Sinnen weder das hasenhafte Flattern seines Herzens noch der plötzliche Schweißausbruch entgangen sein durfte, wollte er wenigstens seinen Stolz wahren. In einer solchen Situation Zigaretten mit tattrigen Fingern zu drehen, half da wenig. Im Stillen verfluchte er seinen Wolf, der seine Angst jedes Mal schürte, weil das blöde Vieh einfach nicht begreifen konnte, dass David mit der Rolle des Anführers weder Hagens Unberechenbarkeit noch seine Gewalttätigkeit übernommen hatte.
         „Wenn wir das Palais nicht halten können, dann sollten wir es verkaufen. Es kann doch eh keiner von uns diesen hässlichen Kasten ausstehen. Weg damit“, entgegnete Jannik und zuckte lässig mit der Achsel.
      „Einfach so? Mann, hast du eine Ahnung.“ David warf einen weiteren Blick auf seine Rechenaufstellung, dann schlug er die Hand vor die Augen und stöhnte gequält. „Einmal davon abgesehen, dass das Palais ein Schrotthaufen ist, sind Böden und Wände mit Blut und Weiß-der-Teufel-was besudelt. Allein den Audienzsaal müsste man wahrscheinlich entkernen, bevor man ihn einem potentiellen Käufer zeigen könnte. Außerdem hat mein Wolf mich netterweise daraufhingewiesen, dass auch im Innenhof die eine oder andere Überraschung verscharrt liegt. Hagen und seine Gesellen haben eine echte Mördergrube aus dem Grundstück gemacht.“
       „Gut, dann verkaufen wir eben nicht“, erwiderte Jannik, der im Geist eine stolze Palaisbesitzerin sah, die voller Eifer den Sparten schwang, um den Garten ihrer Träume anzulegen und dabei auf einen menschlichen Schädel stieß. „Hagen hatte doch tausend krumme Geschäfte laufen, da muss doch ordentlich Geld reingekommen sein.“
     „Klar, an Geld herrscht kein Mangel, das gibt es quasi säckeweise in Hagens Privaträumen. Aber ich glaube, dass Finanzamt wäre alles andere als begeistert, wenn wir versuchen würden, ihnen die Säcke zur Begleichung unserer Schulden anzudrehen.“ David schnipste die abgebrochene Mine über den Tisch. „Wenn ich ganz doll ‚bitte, bitte’ sage, tut der Weihnachtsmann mir  vielleicht den Gefallen und öffnet ein tiefes Loch im Boden, in dem das Palais samt dem ganzen Mafiageld und der Hehlerware verschwindet.“
        „Ich befürchte, um eine solche Gabe erbitten zu dürfen, hast du in diesem Jahr einfach zu viele Menschen umgebracht.“ Mit Genugtuung stellte Jannik fest, dass sein Wolf vor Angst so erstarrt war, dass er auf diese Frechheit dem Anführer gegenüber nicht einmal mehr zu reagieren imstande war.
David stieß ein trockenes Lachen aus und ging zur Anrichte, wo eine alte Kaffeemaschine vor sich hinätzte. Während er zwei Tassen vollschenkte, musste Jannik beim Anblick seiner hinabhängenden Schultern an Nathanel denken. Die Haltung des alten Mannes hatte sich stets durch eine Mischung aus Kraft und gleichzeitiger Erschöpfung ausgezeichnet. David mochte zwar Hagens Nachfolger sein, aber viel mehr noch war er Nathanels Erbe: voller Verantwortungsgefühl, mit einem breiten Kreuz, auf dem alles ausgetragen wurde. Kein Wunder, dass David sich bevorzugt in der Küche herumtrieb, anstatt eins der herrschaftlichen Zimmer mit Kamin zu beziehen. Die Küche war Nathanels Lieblingsraum gewesen, die geheime Machtzentrale des Rudels.
„Vergiss das Finanzamt“, versuchte Jannik die Sorgen seines Freundes zu zerstreuen. „Heute ist Heiligabend und diese Beamten werden sicherlich erst wieder im neuen Jahr aus dem Winterurlaub zurückkehren. Weißt du was? Wir heizen uns jetzt mit Glühwein an einem der Stände ein und sehen zu, dass wir einen echten Tannenbaum auftreiben. Den bezahlen wir dann mit Hagens Blutgeld, und kaufen gleich noch einen Zweiten, damit Burek was zum Bepinkeln im Garten hat. Und zur Feier des Tages spenden wir die restliche Kohle, wenn wir eh nichts damit anfangen können. Womit wir auch gleich eine gute Tat vollbracht hätten, ganz im Geiste der Weihnacht. Dann machen wir es uns gemütlich, trinken noch mehr Glühwein und wenn wir genug intus haben, heulen wir den Mond an, bis der Weihnachtsmann vor Schrecken vom Schlitten fällt.“
„Klingt wirklich verführerisch.“ David schenkte ihm ein schiefes Lächeln, dann drückte er Jannik einen der Kaffeebecher in die Hand, bevor er selbst einen Schluck nahm. Augenblicklich verzog er das Gesicht zu einer Grimasse. „Das ist eine Teer- und keine Kaffeemaschine“, brachte er gequält hervor, was ihn jedoch nicht davon abhielt, einen weiteren Schluck zu nehmen. „Ich würde wirklich nichts lieber tun, als mir gemeinsam mit dir eine Alkoholvergiftung zu holen, aber ich befürchte, diesen Heiligabend werde ich in der Hölle verbringen.“
Unschlüssig hielt Jannik den Becher zwischen den Händen. Der Kaffee dampfte nicht, wie frisch gekochter Kaffee es eigentlich tun sollte, dafür schwamm eine Öllache obendrauf. „Wieso Hölle?“, fragte er verständnislos.
„Weil ich Meta in einem schwachen Moment versprochen habe, den Heiligen Abend im Kreise ihrer Familie zu verbringen. Mit Kirchenbesuch und allem drum und dran.“ Nun sah David nicht länger nur wegen des Neonlichts elend aus. „Na ja, eigentlich wollte sie ganz gern, dass wir auch die anderen Feiertage gemeinsam verbringen. Das wäre doch die beste Gelegenheit für mich, einmal ihre gesamte Familie kennen zu lernen, hat sie gesagt.“ David schüttelte sich und stellte die Kaffeetasse mit einem ‚Plank’ auf den Tisch, als wäre das Gebräu für sein Schaudern verantwortlich und nicht etwa die Vorstellung, unzähligen, fein herausgeputzten Verwandten von Meta vorgeführt zu werden. „Dummerweise habe ich ihr erzählt, dass jeder aus dem Rudel an den Weihnachtstagen seine eigenen Wege geht. Dass die Feiertage die einzige Zeit im Jahr sind, an denen wir unsere alten Familien besuchen oder Freunde aus Kindheitstagen treffen. Na ja, dass wir uns wie Menschen und nicht wie Wölfe aufführen.“
„Heißt das, du verbringst das gesamte Weihnachtsfest mit Meta?“ Es gelang Jannik gerade so, die Panik in seiner Stimme zu unterdrücken.
David hob hilflos die Hände. „Wir verhandeln noch. Aber ich kann nicht behaupten, dass meine Liebste fair spielt. Sie hat da einige Tricks auf Lager, die es mir unmöglich machen, ihr etwas abzuschlagen.“
„Keine Details, bitte.“ Mit einem Zug leerte Jannik die Kaffeetasse und stand auf.
Auch David sprang auf und packte seinen Freund am Ärmel. „Warum kommst du nicht mit? Wir erzählen einfach, dass du mein Cousin bist – das glaubt uns wegen unserer gleichen Augenfarbe eh jeder. Dann setzten wir uns in eine Ecke und gucken uns das Spektakel an, das Metas Mutter zweifellos inszenieren wird. Die hat garantiert einen Kinderchor eingeladen und die Angestellten des Hauses müssen sich als Weihnachtsgnome verkleiden oder so.“ David versuchte sich an einem überzeugenden Lächeln, das jedoch bloß verzweifelt ausfiel. Unauffällig versuchte Jannik, seine Hand abzuschütteln und linste zur Tür hinüber. „Ach, komm schon. Das wäre ein echter Akt von Nächstenliebe, den du mir gegenüber erweisen würdest. Lass mich nicht allein mit den Reichen, bitte.“
Obwohl David ihn flehentlich ansah, schüttelte Jannik den Kopf. Er hatte bereits einige Geschichten über Metas vornehme und leicht überkandidelte Familie gehört und bezweifelte, dass man ihn entspannt in der Ecke sitzen lassen würde. Dafür war er ein viel zu interessantes Objekt, ein wildes Exemplar aus der Unterschicht. So was bekam man in diesen Kreisen selten aus der Nähe zu sehen. Auch wenn David nicht jammerte, war klar, dass er jedes Mal Blut und Wasser schwitzte, wenn er Metas elitärer Mutter und dem kritischen Blick ihres Vaters ausgesetzt war. Und dabei wusste David so ungefähr, wie man sich in Gesellschaft benahm. Außerdem traute sich eh niemand, dem hochgewachsenen Mann mit der respekteinflößenden Ausstrahlung neugierige Fragen zu stellen. Die würde alle er, der schmächtige Junge in Davids Windschatten abbekommen, wenn diese Meute ausreichend Champagner, Rotwein und was es sonst noch alles bei einem feinen Essen geben mochte, intus hatten.
Allein die Vorstellung an einen vornehm eingedeckten Tisch, an dem man sich ordentlich zu benehmen hatte, mit einem Christbaum im Hintergrund, an dem echte Kerzen brannten, verknotete Jannik den Magen. Das kannte er nur aus Hollywood-Filmen und so sollte es auch gefälligst bleiben. Aber noch schlimmer war die Vorstellung, David im Kreis seiner Familie zu sehen. Denn genau darum ging es bei diesem Heiligabend. David und Meta waren ein Paar und wenn man sich die beiden so ansah, wurde schnell klar, dass sich daran nichts mehr ändern würde – ganz gleich, wie unterschiedlich ihre Leben sein mochten. Obwohl David sich noch mit Händen und Füßen dagegen sträubte, dieses Weihnachtsfest würde zu einer Art Aufnahmeritus in Metas Familie werden. Und dabei hatte Jannik nichts verloren.
          „Danke fürs Angebot, aber ich glaub, dann hänge ich doch lieber bei Esme ab, schaue Cartoons im Fernsehen und esse Kartoffelsalat mit Würstchen.“ Die alte Esme war seit jeher Janniks Anlaufstelle gewesen, seit er dem Rudel beigetreten war.
        „Ich dachte, Esme hätte zum ersten Mal ihre Schwester über die Feiertage eingeladen. Hältst du es für eine gute Idee, da aufzuschlagen? Die beiden Frauen haben sich seit Ewigkeiten nicht gesehen, weil ihre Schwester sich vor Hagen gefürchtet hat. Da ist jeder Wolf ein Wolf zu viel.“
       Jannik, der schon an der Tür war, hielt inne und drehte sich noch einmal um. „Und warum sollte das ein Problem sein? Mein Wolf hat vermutlich mehr Schiss vor Esmes Schwester, als sie vor ihm. Also viel Spaß mit den oberen Zehntausend.“
        Hastig schlug Jannik die Tür hinter sich zu und ignorierte nach Kräften Davids Wunsch, dass er zurückkehren möge, obwohl er an jeder Faser seines Körpers zerrte. Sein Wolf sprang hervor und versuchte das Kommando an sich zu reißen, weil er trotz des Rufs seines Anführers das Palais verließ. „Gib Ruhe, du Verräter“, knurrte Jannik und drängte seinen Wolf gewaltsam zurück. „Immer nur vor Angst rumwinseln, aber wenn David pfeift, sofort losrennen wollen. So nicht!“
      Burek, der draußen bei den Treppen auf ihn gewartet hatte, blickte ihn fragend aus seinen braunen Hundeaugen an.
„Du bist doch nicht gemeint, Kumpel.“ Jannik ließ sich neben dem Mischling nieder und vergrub sein Gesicht in dessen struppigen Fell. An Bureks Halsband klimperten rote Glöckchen, die Esme ihm vor ein paar Tagen mit den Worten „für unseren lieben Weihnachtshundi“ umgebunden hatte. Normalerweise hätte Burek sich als stolzer Straßenköter solch ein Geklimper verbeten, aber bei Esme machte er eine Ausnahme.
Gemeinsam brachen sie auf, ließen schon bald die verwaisten Bürgersteige ihres Viertels hinter sich und hielten auf die belebten Straßen der Innenstadt zu. Überall waren gut gelaunte Menschen unterwegs, schlenderten umher, Tüten mit gebrannten Mandelkernen oder Zuckerwatte in den Händen haltend. Man blieb stehen, schaute überdrehten Kindern mit roten Weihnachtsmannmützen zu und hielt ein Schwätzchen.
Solche Bilder gab es in dieser Stadt tatsächlich nur in der Weihnachtszeit zu sehen, ansonsten mieden die Menschen die Straßen dieser Stadt, als ahnten sie, dass sich Jäger in den Schatten der Häuserschluchten verbargen, die in ihnen jagenswerte Opfer sahen. Vermutlich hatte David Recht, wenn er sagte, dass die Wölfe um diese Jahreszeit ruhten und ihren Hütern dadurch die Möglichkeit gaben, Mensch zu sein. Er selbst konnte das schlecht beurteilen, denn sein Wolf zeigt kein Interesse an der Jagd. Deshalb war es ihm auch noch nie passiert, dass ein Mensch ihn angsterfüllt angeschaut hatte. Erlebnisse, wie David sie mit seiner Mutter Rebekka erlebt hatte, und über die er nie hinweggekommen war, kannte er nicht. Vielleicht aber lag es auch daran, dass Jannik keine Familie kannte.
Er schluckte, als ihm bewusst wurde, dass er keine Ahnung hatte, wo er heute Abend hingehen sollte. Nicht mehr lange, dann würden die Straßen verwaist und die bunt erleuchteten Geschäfte und Stände geschlossen sein. Dann würde er sich seiner Einsamkeit stellen müssen. Gut, da war das Palais, aber vor dem Gedanken grauste es ihm. Er würde allein sein, denn Burek ließ sich nicht einmal mit den besten Leckerlis der Welt in dieses nach Blut und Todesangst stinkenden Gebäude locken.
Mit einem Anflug von Verzweiflung steckte sich Jannik die Stöpsel seines MP-3-Players in die Ohren, weil er die von überall hertönende Weihnachtsmusik plötzlich nicht mehr hören konnte. Leise summte er die Melodie des Rockstücks mit, das David ihm aufgespielt hatte. „Das könnte glatt unsere Hymne sein“, hatte David mit einem Grinsen gesagt. „Die richtige Hymne für uns Wölfe.“


I walk this empty street
On the Boulevard of Broken Dreams
I walk alone
My shadow's the only one that walks beside me


Jannik wollte schon den Weg einschlagen, der ihn möglichst rasch vom gutgelaunten Feiertagstrubel fortbringen würde, doch sein Wolf ließ ihn vollkommen unvermittelt und mit aller Macht an Ort und Stelle stehen bleiben. Wie angewurzelt. Ein kleines Mädchen rannte gegen ihn und aus ihrer Tüte mit Schmalzkuchen ergoss sich eine Ladung Puderzucker auf seinen Parka. Sie schob sich die Mütze aus der Stirn und schaute ihn vorwurfsvoll an. Sie hatte die Pausbacken einer Fünfjährigen, die wegen der Kälte rot leuchten. Der Schal um ihren Hals war mit Rentieren bedruckt. Ihre Lippen bewegten sich, doch Jannik konnte kein Wort verstehen, bis er die Musik ausstellte.
„Was?“, fragte er.
„Man sagt nicht ‚was’, sondern ‚wie bitte’. Und man bleibt nicht einfach stehen. Das ist unhöflich.“
„Klugscheißen auch“, erwiderte Jannik, der die Kleine mit einem Mal gar nicht mehr so niedlich fand.
Bevor das Mädchen etwas erwidern konnte, wurde es von einer Frau an die Hand genommen und weggezerrt. „Hanna, man spricht nicht mit Fremden.“ Die Frau warf Jannik noch einen prüfenden Blick zu und als sie erkannte, das es sich bei ihm um keinen Triebtäter handelte, schenkte sie ihm ein Lächeln und deutete mit dem Zeigefinger auf die Puderzuckerwolke auf seinem Parka. „Sie haben da was.“ Dann verschwand sie samt Hanna auch schon im Gewühl.
Die Versuche, den Puderzucker mit der Hand abzustreifen, führten lediglich dazu, dass der Fleck größer wurde. „Großartig. Sieht aus wie eine Zielscheibe, direkt auf meinem Bauch“, seufzte Jannik. Doch nicht einmal Burek schien sich für seine Sorgen zu interessieren. Der Hund hatte die Ohren aufgestellt und im nächsten Moment jagte er einfach davon. „Burek, komm zurück!“ Das durfte doch einfach nicht wahr sein, nun ließ ihn auch noch sein eigener Hund im Stich. Jannik verschränkte die Hände hinter dem Nacken und zwang sich, tief einzuatmen. Was gar nicht so leicht war, weil ihn ständig schwer bepackte Leute anrempelten. Von Besinnlichkeit keine Spur.
„Hallo, Jannik. Du hast dir aber einen seltsamen Ort für Entspannungsübungen ausgesucht.“
Der Wolf in Janniks Inneren tänzelte vor Freude um die eigene Achse, sodass Jannik gar nicht erst hinsehen musste, um zu wissen, wer vor ihm stand. Eine solche Wirkung auf die Wölfe hatte nur Meta, Davids Freundin. Deshalb hatte sein Wolf ihn also zum Anhalten gezwungen, er hatte ihr unbedingt begegnen wollen.
Meta hatte ihr blondes Haar unter einer Wollmütze gesteckt und statt eines Mantels trug sie etwas, für das Jannik keinen Namen kannte. Eine Art Umhang. Aber es war ganz bestimmt der letzte Schrei, das war es bei Metas Klamotten immer. Wieder einmal staunte er darüber, dass sie sich ausgerechnet David ausgesucht hatte, dessen komplette Garderobe ausschließlich aus Jeans und T-Shirts bestand, und der Anzüge für die Berufskleidung von Bestattungsunternehmern hielt.
„Hallo, Meta“, grüßte Jannik zurück. Bei ihrem Anblick war ihm gleich leichter ums Herz. Sie hielt ein in Zeitungspapier gewickeltes Paket in den Armen und roch nach Gewürztee mit Rum. „Noch auf die Schnelle ein Geschenk besorgt?“
„Das ist ein Adventskranz für Rahel. Sie feiert Weihnachten zwar nicht, aber das heißt ja noch lange nicht, dass sie auf Dekoration verzichten muss. In ihrer Wohnung gibt es nicht einmal einen Nikolaus oder einen Engel, es ist so traurig.“
Rahel war Metas Freundin und jüdischen Glaubens. Jannik hatte eine Schwäche für diese Frau, vor allem für ihre Rundungen, von denen es an Rahel mehr als genug gab. Leider strafte sie ihn die meiste Zeit über mit Ignoranz. Sie hatte nicht viel übrig für Wölfe, und schon gar nicht für solche, die in ihrer Nähe zu sabbern begannen.
In diesem Augenblick trat Rahel dazu und bedachte Jannik sogleich mit einem strafenden Blick. „Dein Hund hat keinen Sinn für Anstand“, ließ sie ihn unumwunden wissen. Sie verpasste Burek, der sich an ihre Beine drängte, einen leichten Klaps auf die Schnauze, was den Hund jedoch nicht davon abhielt, weiterhin an ihr herumzuschnüffeln.
„Hast du dir vielleicht Weihnachtspunsch über die Hose gegossen? Irgendwas an dir muss ja gut riechen“, brachte Jannik als Ausflucht hervor, während er seinen Hund ernsthaft darum beneidete, Rahel so nah zu sein.
Doch anstelle einer Antwort stierte Rahel ihn nur wütend an. Meta, der der kleine Schlagabtausch sichtlich unangenehm war, drückte Jannik das Paket in den Arm. „Halt bitte mal, sonst breche ich noch zusammen. Du musst wissen, dass Rahel sich standhaft weigert, mein Geschenk anzunehmen.“ Nachdenklich musterte Meta ihn. „Was machst du eigentlich heute Abend, Jannik? Willst du nicht bei uns mitfeiern? David uns ich sind bei meinen Eltern, das ist immer wunderschön. Fast wie im Kino. Wäre das nicht was für dich oder hast du schon eine Verabredung?“
„Ich scheiß auf Weihnachten.“ Das kam sehr barsch heraus, aber Jannik hatte allmählich die Nase gestrichen voll, damit konfrontiert zu werden, dass er keinen anständigen Plan für den 24. Dezember parat hatte.
„Gut ausgedrückt, du unkultivierte Bestie“, erwiderte Rahel spöttisch.
Meta seufzte. „Heute blitze ich mit meinen Einladungen auch nur ab. Rahel hat mir ebenfalls einen Korb gegeben. Hoffentlich hat es David sich in der Zwischenzeit nicht auch noch anderes überlegt.“ Kaum dass sie das gesagt hatte, klingelte ihr Handy. Hastig blickte sie auf die Nummer. „Noch einmal Glück gehabt, es ist nur meine Mutter.“ Doch das Lächeln verging Meta schon nach einigen Sätzen. „Notfall“, erklärte sie, sobald sie aufgelegt hatte. „Meine unfassbar idiotische Schwester hat versucht, eine alte Lichterkette anzuschließen und dabei einen Stromschlag erlitten. Es scheint nichts Wildes passiert zu sein, aber meine Mutter steht kurz vorm Herzinfarkt. Ich muss sofort los. Jannik, sei ein Schatz und bring das Paket zu Rahel nach Hause, ja? Frohe Weihnacht euch beiden!“
Meta wartete nicht einmal seine Zustimmung ab, sondern suchte sich bereits einen Weg durch die Menge, sich lautstark selber fragend, wie sie jetzt auf die Schnelle bloß an ein Taxi kommen solle. Offensichtlich glaubte sie nicht an Wunder, nicht einmal an diesem besonderen Tag.
„Ich kann das Paket allein tragen“, behauptete Rahel und wollte es Jannik abnehmen, doch der ließ nicht los.
„Die Chefin hat gesagt, ich soll es zu dir nach Hause tragen“, hielt er mit erstaunlich fester Stimme dagegen, sodass Rahel tatsächlich die Hände zurückzog.
„Hast du denn nichts Besseres zu tun? Mit irgendwelchen Freunden rumhängen, Familie oder so?“
Obwohl es Jannik unangenehm war, seine Ziellosigkeit für den Heiligen Abend zu offenbaren, antwortete er ehrlich: „Nein.“
„Na, dann will ich dich nicht von deiner Pflicht abhalten.“ Rahel schlug zwar einen ironischen Ton an, aber Jannik glaubte tatsächlich Erleichterung auf ihrem Gesicht zu erkennen.
Schweigend ließen sie die sich langsame leerende Innenstadt mit ihren unzähligen Weihnachtsbäumen, dem Lichterkettenmeer und den aus unzähligen Boxen dröhnenden Merry-Christmas-Liedern hinter sich, und kamen in eine Wohngegend mit roten Backsteinhäusern. Die Dämmerung ging in eine sternenlose Nacht über, der Wind frischte auf und trieb Schneeflocken mit sich. Warmes Licht fiel aus den Fenstern, von dem Jannik sich magisch angezogen fühlte. Immer wieder versuchte er in die Zimmer zu spähen, doch die meisten Fenster lagen Hochparterre, sodass er sich lediglich ausmalen konnte, was sich hinter den Wänden abspielen mochte. Extra hübsch zurecht gemachte Kinder mit vor Aufregung geröteten Gesichtern, Väter, die mit würdevollen Mienen den Festbraten zerlegten, Großeltern, die mitten im Getöse im Sessel eingenickt waren. Das flüsterte ihm zumindest seine Phantasie zu, denn in Wirklichkeit hatte Jannik keine große Ahnung, wie man einen Heiligen Abend so verbrachte, dass es sich richtig anfühlte. Die Heiligabende im Heim waren eher deprimierend gewesen und nachdem er zum Rudel gestoßen war, war er meist an einem Mitglied hängen geblieben, dass nicht viel Wert auf Feierlichkeiten legte – ansonsten wäre es ja auch bei seiner Familie oder andere ihm nah stehende Menschen gewesen.
Schließlich blieb Rahel vor einem Wohnhaus stehen und sah zum Himmel empor. „Das mit dem Schnee ist eine schöne Sache, da werden sich die Kids morgen früh vor Freude gar nicht mehr einbekommen. Mein Bruder und ich fanden das jedenfalls immer großartig, wenn Weihnachten Schnee lag.“
„Deine Familie hat also doch Weihnachten gefeiert?“, fragte Jannik, obwohl ihm eine aufsteigende Traurigkeit die Kehle zuzudrücken begann. Die Eingangstür von Rahels Haus war mit roten Bändern und Tannenzweigen geschmückt. Jemand hatte mit weißem Schaum Glocken und Engel auf die Scheiben gezaubert. Grauenhaft kitschig und wunderschön zugleich.
„Warum nicht?“ Rahels Blick war weiterhin nach oben gerichtet. Kurz glaubte er etwas in ihren Augen glitzern zu sehen, dann wendete sie sich auch schon ein Stück von ihm ab. „Es ist das Fest der Liebe, Menschen feiern es überall auf der Welt. Es geht in erster Linie darum zusammenzusein, der Kälte und Einsamkeit des Winters etwas entgegenzuhalten.“
„Dann verstehe ich nicht, warum du Metas Einladung ausgeschlagen hast.“
Rahel senkte den Blick und der Ausdruck auf ihrem Gesicht traf Jannik so unvermittelt, dass er einen Schritt zurücksetzte. Trauer und Einsamkeit, aber auch der feste Willen, sich davon nicht kleinkriegen zu lassen. Sie hatte ihre Freundin abgewiesen, weil sie es nicht ertragen hätte, bei der Feier nicht dazuzugehören, außerhalb des Kreises zu stehen. Während Jannik sie ansah, war ihm, als wenn er in einen Spiegel blickte.
„Weihnachten ist nichts für einsame Wölfe wie uns beide“, bestätigte Rahel seine Vermutung. Sie versuchte sich an einem tapferen Ausdruck, doch irgendwo hinter den erleuchteten Fensterscheiben setzte eine Familie zum Singen an. „Ich habe ‚Es ist ein Ros entsprungen’ schon immer gehasst.“ Sie blinzelte und griff entschlossen nach dem Paket, das Jannik jedoch nicht loslassen wollte. Seine Finger waren wie festgefroren, während der Druck auf seine Kehle stetig zunahm, sodass er kaum noch Luft bekam. Rahel zog noch einmal an dem Paket, dann gab sie auf. „Fein, behalt den dämlichen Adventskranz eben. Ich weiß eh nicht, was ich damit anfangen soll. Schönen Abend noch.“ Mit einer ruppigen Bewegung drehte sie sich um und verschwand im Hausflur.
Jannik blieb mit dem in Zeitungspapier eingeschlagenen Kranz stehen, bis er feststellte, dass Burek nicht neben seinen Füßen saß. Der Hund musste Rahel gefolgt sein, als sie die Haustür aufgestoßen hatte. Jannik schluckte schwer, dann noch einmal. Bevor die Einsamkeit die letzten Dämme seiner Selbstbeherrschung einreißen konnte, ging auf der oberen Etage ein Fenster auf und Rahels Lockenkopf kam hervor.
„Dein Köter liegt auf meinem Sofa und weigert sich runterzugehen“, ließ sie ihn wissen. „Warum kommst du nicht hoch und setzt dich neben ihn? Also ... falls du da unten nicht festgefroren bist. Dann zünden wir diesen albernen Kranz an, damit Meta zu guter Letzt doch noch ihren Willen bekommt.“
Ohne seine Antwort abzuwarten, knallte Rahel das Fenster zu. Einen Moment blieb Jannik noch mit erhobenem Gesicht stehen, schloss die Augen und spürte, wie einzelne Flocken auf seinen brennenden Wangen landeten. Eine zärtliche Berührung, genau so fein wie der Klang der hohen Kinderstimmen. In seinem Inneren grummelte der Wolf ermunternd, bevor er sich zur Ruhe legte. Mit schnellen Schritten war Jannik bei der Eingangstür und durch sie hindurch. Draußen glitzerte die feine Schneedecke im Licht der Laternen und bedeckte nach und nach seine Spuren.

Montag, 12. August 2013

Trailerdreh mit Walfischknochen


Der Norden Deutschlands steht für Weite: glattgestrichenes Land bis zum Meer Und selbst wenn man an der Küste angelangt ist, muss man erst einmal breite Sandstrände und das Watt überwinden, um ans Wasser zu gelangen. Genau diese Weite ist es, die mich am Norden so sehr fasziniert, dass sie der Boden ist, auf dem mein neuer Roman „Das Geheimnis des Walfischknochens“ baut.

St. Peter Ordings Traumstrand
Bei meiner Fahrt im winterlichen März dieses Jahres nach Sankt Peter Ording, in dessen Dünen mein Verlag einen Trailer von der Agentur bürosüd drehen lässt, ist von dieser Weite allerdings nicht viel zu sehen. Jedenfalls nicht, solange ich als Autofahrerin brav nach vorn blicke. Dort sehe ich nur einen Traktor nach dem nächsten, die ich mich nicht zu überholen traue, obwohl die Einheimischen es mir mit waghalsigen Überholmanövern vormachen. Nein, da schleiche ich lieber hinterm Güllewagen her und fühle mich meiner Heldin Greta Rosenboom verbunden, für die jede Autofahrt eine Herausforderung darstellt. Außerdem ist es ein schöner Frühlingsmorgen auf ganz klassische Küstenart: Nebel liegt über den Feldern und Wiesen, während sich am Himmel die Sonne durch den Dunstschleier kämpft und diese einzigartig gedämpften Farben mit Goldstich zaubert. Nur die tickende Uhr macht mir zu schaffen, denn eigentlich sollte ich schon längst im Surferparadies Schleswig-Holsteins angekommen sein. Für die geplanten Foto- und Drehaufnahmen haben wir nur einen Tag Zeit.
Wenigstens ist der Wettergott gnädig und lässt nach Monaten des Dauerschneefalls und einer festbetonierten grauen Wand vorm Himmelszelt die Sonne scheinen, als ich endlich beim verabredeten Hotel ankomme. Da fällt es mir nicht schwer, gut gelaunt zu lächeln, obwohl mir dieser Termin – ehrlich gesagt – ziemlich schwer im Magen liegt. Dass bedingt nicht allein die Aufregung, die eigene Geschichte, mit der man viele Monate gerungen und gelebt hat, nun plötzlich in Bilder verwandelt zu sehen. Nein, es ist vielmehr die Tatsache, dass ich Kameras nur mag, wenn ich hinter ihnen stehe. Glücklicherweise bringt mich die sensationelle Aussicht des Hotelzimmers, in dem das Interview gedreht werden soll, prompt auf andere Gedanken: kilometerweit erstrecken sich die Salzwiesen St. Peters bis zum Strand, hinter dem sich ein Streifen Blau abzeichnet. Blau wie die Hoffnung, rede ich mir Mut zu.


Christiane wirkt ihre Magie
Derart beflügelt lasse ich mich von der Visagistin Christiane Theeß auf einen Stuhl befördern und darf eine Zeit lang gar nichts tun. Nur klappt das leider nicht. Vor mir sind unzählige Pinsel, Tuben und Döschen aufgebaut und besonders letztere üben eine magische Anziehungskraft auf mich aus. Allein diese schwarz glänzenden Deckel ... Lauter hübsch verpackte Schätzchen, von denen jeder erkundet werden möchte. Außerdem ist Christianes Arbeit schlichtweg zu faszinierend. Was sie mit meinem Gesicht anstellt, hat wenig mit dem zu tun, was ich morgens gelegentlich vorm Spiegel praktiziere. Hier wird mit Farben gearbeitet, als sei mein Gesicht ein Gemälde. Und genauso sieht das Ergebnis letztendlich auch aus: ein wahres Meisterwerk! Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich keine Augenringe und sogar meine vom letzten Winter arg geplagte Schnupfennase ist nicht einmal einen Hauch gerötet.
Unterdessen läuft die Zeit, denn bis zum Mittag müssen wir mit den Innenaufnahmen fertig sein. Während ich dem Farbrausch fröne und Christiane Löcher in den Bauch frage, bauen Andreas Pavelic und Anita Curic von bürosüd die Kamera auf. Als ich mich vor diesem wuchtigen Apparat wiederfinde, ist meine soeben erworbene Selbstsicherheit erst einmal dahin, bis Christiane mir ein paar Gesichtslockerungsübungen vorführt. Die kann ich zwar nicht nachmachen – oder können Sie die Lippen zu einem Pferdwiehern schlabbern lassen? Nun, ich kann das nicht – aber das Lachen hilft auch beim Lockermachen. Und noch mehr, dass sich die beiden Ladies neben der Kamera postieren und aufmunternd lächeln. Also lächle ich zurück und erzähle vom „Geheimnis des Walfischknochens“.
Seewind - ein Fotografenschreck
Nach einer Mittagspause im Strandrestaurant Arche Noah (wer seine Pasta gern so scharf mag, dass ihm die Ohren glühen, ist hier richtig) am Ende der Badbrücke wagen wir uns in den auffrischenden Nordwind, um Fotos zu machen. Der Versuch, die Wollmütze abzunehmen, endet mit dem beeindruckenden Abflug meiner Haare in Richtung Firmament. Die Mütze also rasch wieder auf den Kopf, denn auf so einem Autorenfoto ist es schon fein, wenigstens etwas Gesicht vor lauter Flatterhaar zu sehen. Am Strand lebt Andreas als Fotograph richtig auf, gelockt vom sensationellen Licht, in dem selbst verwittertes Holz großartig aussieht. Währenddessen lerne ich, dass Fotographen immer noch etwas einfällt. Anstatt ein paar Minuten entspannt in die Kamera zu lächeln, umkreise ich einen Pfahl, renne zu einer Schaukel und wieder zurück, drehe mich nach links, drehe mich nach rechts, während Anita sich mit einem Reflektor abmüht, den der Wind offenbar für einen Drachen hält, und Christiane mit stoischer Gelassenheit meine zerzausten Haare einzufangen versucht.
Dieses Spiel setzen wir am Nachmittag im beeindruckenden Dünengürtel ein wenig außerhalb fort, während der Wind an Schärfe gewinnt und einem Sand in die Augen treibt. Aber das kümmert mich mittlerweile nicht mehr, Andreas hat mich angesteckt mit seiner Schwärmerei vom sagenhaften Nachmittagslicht an der Nordsee, auch wenn wir mit den langen Schatten kämpfen, die wir werfen.
Das berühmt-berüchtigte Nachmittagslicht

Letztendlich komme ich trotz aller Motivation zu der Erkenntnis, dass die Arbeit eines Fotomodels wirklich harte Arbeit ist, egal wie spannend die Umgebung und Ideen der Leute im Team sind. Fotomodel Tanja sehnt sich plötzlich nur noch nach Wärme und einem heißen Kakao, dem besten Mittel gegen Nordwind. Dann taucht endlich die Ablösung auf: an der Wasserkante läuft ein Hund entlang. Möglichweise der alte Pirat aus dem „Walfischknochen“? Andreas und Anita beschließen, dass dieser Hund unbedingt gefilmt werden muss und entlassen Christiane und mich mit einem begeisterten Blitzen in den Augen, mit den Gedanken schon bei dem nächsten lohnenden Motiv. Wir beiden Mädels nutzen die Chance und spazieren zurück durch die Dünen, darüber plaudernd, dass wir unbedingt hierher zurückkommen wollen – zu den Salzwiesen und breiten Sandstränden von St. Peter Ording. Allerdings erst im Sommer, wenn die Sonne nicht bloß scheint, sondern auch wärmt ...