Mittwoch, 4. Juni 2014

Kinders Kinder


Die Vorliebe meines Sohns mit Schwarz zu malen, verleitete seine Grundschullehrerin zu dem Hinweis, wir sollen uns dringend einmal Gedanken darüber machen, was das wohl bedeute. Wir haben uns keine Gedanken gemacht, sondern ihn gefragt. Seine Antwort war einleuchtend: „Schwarz knallt ordentlich.“ Da hat der Junge Recht. Schwarz steht für Drama – und das kann man gebrauchen, wenn die Zeichnungen technisch noch nicht so gut sind, wie sie es den Bildern im Kopf nach sein sollten. Eine Freundin legte der Schule ihres Sohns ein psychologisches Attest darüber vor, dass die verträumte bis geistesabwesende Art ihres Kindes auf seine Persönlichkeit und nicht auf eine wie auch immer geartete Störung zurückzuführen sei. Während eine andere Freundin mit Grabesmiene verkündete, ihrer Jüngste würde im Leben nichts Gutes blühen, denn sie sei schlicht zu eigen, eine solche Ader würde nur Probleme mit sich bringen. Gebe es eine Schraube beim Kind, die man anziehen kann, damit die Eigensinnigkeit nivelliert wird, wäre die Verführung für die Eltern gewiss groß, aus der kleinen Eigenbrödlerin einen Sonnenschein zu machen.

Was steckt hinter dem Wunsch, kleine Menschen in eine Form zu pressen und über jene Teile zu klagen, die trotz aller Mühen weiterhin über die Ränder hängen und der Perfektion trotzen? Oder viel mehr noch: Urteile über sie zu fällen, deren Grundlage eine offenbar immer engere Norm bildet? „Natürlich bist du genau so richtig, wie du bist. Aber ich mache mir zugleich schreckliche Sorgen, weil du nicht so bist, wie du sein solltest“, scheinen viele Menschen über die Kinder in ihrem Leben zu denken. Wir brauchen Wiedererkennungswerte für eine Beurteilung, oder auch um uns in jemand anderen hineinzuversetzen. So gesehen sollte es für uns Großen doch ein Klacks sein, einfach auf unsere Kindheit zurückzublicken und zu überlegen:
  • neigte ich als Kind zu Depressionen, weil ich gern allein auf meinem Zimmer gespielt habe, wenn draußen Bombenwetter die Spielplätze zum Bersten brachte?
  • legte ich eine asoziale Neigung an den Tag, wenn ich meine kleine Cousine vom Sofa geschubst habe, weil sie sonst wie eine Klette an mir klebte?
  • verrieten die vielen Lügen, mit denen ich mich durch den Tag schummelte, meinen unsteten Charakter?

·         Wohl eher nicht.
Und wenn ich ganz ehrlich bin, hocke ich heute noch gern auf meinem Zimmer, halte mir Nervensägen vom Hals und flunkere, wenn es meinen Weg zu glätten scheint. Man ist halt eine komplexe Persönlichkeit mit Stärken und Schwächen, wobei einige Stärken wie Durchsetzungswille, Energiegeladenheit, Phantasie und Selbstständigkeit eben auch unsympathisch wirken können – und die meisten Schwächen eh.
Wir Erwachsenen gönnen uns unsere Komplexität. Schließlich haben wir die Entwicklungskurve erfolgreich abgeschlossen, während das Beharren auf die eigene Persönlichkeit bei Kindern schnell als verdächtig gilt. Wenn man nachfragt, was dieses und jenes seltsame Kind denn ändern müsse, damit die Erwachsenen erleichtert aufatmen, kommt man rasch einem Idealbild vom Kind auf die Spur: Der normale Zwerg soll bitteschön offen und auf angenehme Weise an Gott & der Welt interessiert sein, gut gelaunt und ausgeglichen, sportbegeistert, friedfertig und allzeit bereit zu einem Lachen aus tiefsten Herzen. Ich persönlich kenne nicht gerade viele Erwachsene, die auch nur die Hälfte dieser (gewiss unvollständigen) Liste erfüllen. Desto mehr wundert es mich, dass von kleinen Menschen, bei denen ein Entwicklungsschub den nächsten jagt, ein solches Ideal gefordert und damit zur Norm erhoben wird. Ich muss dabei unwillkürlich an den Gruselfilm „Die Frauen von Stepford“ denken ...

Anständige Kindergeschichten enden immer mit einer Moral, damit aus den Kleinen bessere Menschen werden. Mein Blog endet einfach nur mit einem Stirnrunzeln, bevor ich mich in die dunkelste Ecke unseres Haus zurückziehe und ein schwarzes böses Herz auf den Zeichenblock meines Sohnes male.