Freitag, 11. Juli 2014

Wie wir werden, wer wir sind


Es liegt an der Kindheit, an der Jugendzeit – schon klar.
Als Mutter eines Achtjährigen schaue ich auf mein Kind mit seinen Interessen, Neigungen und der langen Liste an Dingen, die es verabscheut, und stelle fest: Viele Spuren waren bereits früh gelegt, sodass ich eher selten die Chance bekomme, bei künftigen Wegentscheidungen mitzumischen. Genau das ist jedoch oft die Hoffnung von uns Eltern, wir sehen es ja als eine unserer wichtigsten Aufgaben, den Wegweiser zu spielen („Käfer in Gläser einzusperren, ist zwar spannend. Aber! denk doch mal den aaarmen Käfer.“ Nicht dass aus dem Kind später noch ein Sadist wird oder gar ein skrupelloser Wissenschaftler).
Dabei beeinflussen wir unsere Kinder oft.
Manchmal öfter als uns lieb ist, etwa wenn wir wieder einmal den Samstagvormittag im Bett vertrödeln, anstatt energiegeladen in den Tag durchzustarten und seine Möglichkeiten bis zur Neige auszukosten. Oder ganz schlimm: wir wollen auch unbedingt einen Burger von McD.
         Es scheint also nicht ganz verkehrt, sich einzugestehen, dass man Einfluss verübt, ohne diesen Vorgang beeinflussen zu können. Und mit dem Ergebnis leben muss man dann später auch noch.
So hat das zumindest meine Mutter gesehen, als ich mit Vierzehn plötzlich anfing, mein mühsam zusammengekratztes Taschengeld in Stephen King-Romane zu investieren. Dabei muss gesagt werden, dass Frau Heitmann alle anderen Autoren und Autorinnen akzeptierte, die damals Einzug in mein Bücherregal hielten. Sogar Anais Nin, die sich ein Jahr später mit ihren erotischen Geschichten dazugesellte, und noch ein Jahr später Bret Easton Ellis mit „American Psycho“ (vermutlich weil sie nach den ersten Seiten Marken-Namen-Reizüberflutung erlitt und deshalb nicht herausfand, wovon der Roman sonst noch so handelte). King jedoch stand für all das Schlechte, vor dem sie ihre Tochter schon immer hatte bewahren wollen, angefangen bei der vulgären Sprache, den expliziten Gewaltszenen und den überaus verstörenden Horrorelementen. Es gehörte gewiss viel Stärke dazu, meine Schätze wie „Brennen muss Salem“ und „Es“ als Erziehungsberechtigte nicht kurzerhand zu beschlagnahmen und im Altpapier zu entsorgen. Frau Heitmann hat sogar versucht, diese ach so abstoßenden Werke zu lesen, was ich ihr hoch anrechne.
Als ich fünfzehn Jahre später selbst mit dem Schreiben angefangen habe und meine Mutter seitdem vermutlich zu meinen begeistertsten Leserinnen gehört, hat sie zu mir gesagt: „Ich habe mir damals wegen dieser Horrorromane wirklich große Sorgen gemacht. Wie gut, dass ich dir vertraut habe. Offenbar hat dieser Schmierfink King einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf dich gehabt, aus dem du glücklicherweise etwas ganz Eigenes gemacht hast.“ Da hat Frau Heitmann Recht. Die Liebe zur Spannung, Figurenzeichnung und Familiegeschichte habe ich beim Lesen eben jener Romane erlernt. Allerdings gab es jemanden, der mich zuvor auf den Geschmack gebracht hatte, sodass ich das Verstörende, das Herzrasen und Angstattacken verursacht, überhaupt an mich ranließ.
Die Sommerferien gehörten während meiner Kindheit meinen Großeltern. Sie hatten ein Haus mit großem Garten, in der Nähe gab es einen Kanal und den besten Wald aller Zeiten. Ihre Enkelkinder waren willkommen und manchmal waren drei oder vier auf einmal zu Besuch. Für mich war es ein besonderer Glücksfall, wenn ein bestimmter älterer Cousin mit von der Partie war – aus gutem Grund. Er war gerade in Kometengeschwindigkeit in Richtung Pubertät unterwegs und besaß nicht nur einen tragbaren Kassettenrekorder, sondern auch eine Sammlung Horrorkassetten. Wenn die Großeltern abends im Wohnzimmer saßen, die Tageschau und anschließend „Zum Blauen Bock“ schauten, dann saßen wir zwei unterm Küchentisch. Es gab Ravioli aus der Dose oder Nutella vom Esslöffel, dazu hörten wir „Draculas Schloss“. Mein Großvater hätte diesem verantwortungslosen Halbstarken vermutlich die Hammelbeine langgezogen, hätte er jemals herausgefunden, in welche Geheimnisse der Erzählkunst seine zehnjährige Enkelin eingeführt wurde, anstatt mit frisch geputzten Zähnen im Bett zu liegen. Doch dafür war der „Blaue Bock“ schlichtweg zu fesselnd. Und ich bemühte mich sehr, nachts vor Angst lautlos ins Kissen zu wimmern. Das hatte mir mein Cousin ausgiebig eingebläut. Aber auch so hätte ich alles dafür gegeben, nicht aufzufliegen. Die mitreißenden Gefühle, die die Gruselgeschichten auslösten, waren die Panikattacken mehr als wert. Als später in Kings „Shining“ Geister einem kleinen Jungen das Leben schwer machten, war ich bereits gewappnet.
Es ist schwer zu sagen, was uns ausmacht. Welche Erfahrungen wir machen müssen, die sich als entscheidende Wegweiser entpuppen. Ob ich meinem Sohn deshalb „Draculas Schloss“ unterm Küchentisch vorspiele? Gewiss nicht. Und falls ich jemanden dabei erwische, wie er es tut, ziehe ich ihm die Hammelbeine lang. Schließlich bin ich die Enkelin meines Großvaters.

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