Tatarata - pünktlich zur kalten Jahreszeit ein Wiedertreffen mit den Figuren aus "Wintermond"! Ich wünsche Euch eine schöne Adventszeit, mit einem warmen Plätzchen und viel Muse zum Lesen. Denn dafür wurde der Winter schließlich erfunden, nicht wahr?
Weihnachtsmond
von
Tanja Heitmann
Die Einkerbung zwischen Davids Augenbrauen wurde tiefer mit
jeder neuen Zahlenreihe, die er in den Taschenrechner tippte. Düster
stierte er das notierte Ergebnis an, dann zerriss er das Blatt Papier mit einem
Fluch in zwei Teile. Fast wäre Jannik auf halbem Weg umgedreht, aber da sah David auf und nickte ihm zur Begrüßung zu.
Ein Blick aus den vertrauten blauen
Augen genügte, um Jannik sein Unbehagen vergessen zu lassen. „Hi, gibst du
dir Mühe, weihnachtliche Stimmung zu versprühen?“, fragte er leichthin.
Erneut heulte Janniks Wolf auf, ein
Warnruf. Der zweite übrigens, seit der Junge die Küche des Palais betreten und
David über einem Stapel Rechnung brütend vorgefunden hatten. Das Licht der
Leuchtröhren ließ Davids eh schon markanten Gesichtszüge noch stärker
hervortreten und verpasste seiner Haut einen ungesunden Anstrich. Fast als wäre ihm
übel ... Den Plastiktannenbaum mit der im Herzschrittmachertempo blinkenden
Lichterkette, den Jannik in einer Anwandlung von Feierlichkeit auf den
Resopaltisch gestellt hatte, war in eine Ecke hinter seinem Rücken
verbannt worden. Nun ja, es gelang dem guten Stück mit dem Knick im Stamm und der
Staubschicht, die an dreckigen Schnee erinnerte, eh nicht, weihnachtliche
Stimmung zu verbreiten.
Zögernd trat Jannik an den Tisch,
während der Wolf in seinem Inneren einen nervösen Tanz hinlegte. Dem Rudeltier gefiel ein
gestresster Anführer gar nicht, aber Jannik sah in David keinen Anführer, sondern
seinen Freund, der versuchte, aus Hagens doppelt und dreifacher Buchführung schlau zu werden,
bevor ihnen der Palais unter dem Hintern weggepfändet wurde. Jannik erinnerte
sich an den Beutel mit Lebkuchen, den er im Vorbeigehen von einem der Stände
auf dem Weihnachtsmarkt stibitzt hatt. Zwar waren nur noch ein paar Reste drin, weil sein Hund Burek die meisten Lebkuchen erbettelt hatte. Aber sein Kumpel sah danach aus, als könnte er etwas Süßes vertragen. Der Blick jedoch, den er auf die Tüte warf, ließ Jannik seine Großzügigkeit sofort bereuen.
„Bitte sag mir, dass du das Zeug nicht hast mitgehen lassen“, sagte David leise.
„Das fehlt mir bei dem ganzen Ärger: ein überführter
Dieb, den ich vom Polizeirevier abholen darf.“
Entgegen dem ängstlichen Wimmern seines
Wolfes schnappte Jannik sich einen Stuhl und setzte sich gegenüber seinem
Freund hin. „Mach mal halblang. Auf dem Weihnachtsmarkt ist der Teufel los, die
halbe Stadt ist unterwegs, um noch irgendwelchen Krams für den Heiligen Abend
zu organisieren. Immer auf den letzten Drücker. Die Standbesitzer machen heute
dem Umsatz ihres Lebens, da fällt so eine milde Gabe gar nicht weiter ins
Gewicht.“
„Ich glaube, du hast die Sache mit den
Geschenken an Weihnachten irgendwie nicht richtig begriffen“, schoss David
zurück. Seine Stimme verriet jedoch, dass er mit den Gedanken bereits woanders
war. Seine Finger wirbelten den Bleistift herum und eine Sekunde später war er
erneut ins Zahlengewirr vertieft.
Nach und nach fielen Davids
Bewegungen zunehmend spärlicher aus, bis er letztendlich stocksteif dasaß.
Janniks Wolf, der sich in der Stille wieder hervorgewagt hatte, warf einen
Blick auf seinen Anführer und verzog sich schlagartig mit eingezogener Rute in
den tiefsten Winkel von Janniks Seele. Jetzt erkannte der Junge es auch: die
Schlagader an Davids Hals war deutlich hervorgetreten und pulsierte wild. Kein
gutes Zeichen, gestand Jannik sich ein und fing an, unruhig auf dem Stuhl
herumzurutschen. Als David einen Strich unter das
Ergebnis seiner Rechnerei setzte und die Mine mit einen Knacken abbrach, wäre
Jannik vor Schreck fast aufgesprungen und geflohen. Stattdessen entkam ihm nur
ein leises Wimmern, das mehr nach einem verängstigten Tier als nach einem
Mensch klang.
Bei diesem
Laut zuckte David zusammen und blickte auf. Schlagartig verschwand der bedrohliche
Ausdruck von seinem Gesicht. Zurück blieb ein junger Mann mit zerwühltem dunklem Haar, der in den letzten Nächten eindeutig zu wenig Schlaf abbekommen
hatte – Janniks engster Freund.
„Wir müssen zusehen, dass wir diesen verrottete Kasten loswerden, bevor es uns auffrisst“, sagte
David und rieb sich die Augen.
Jannik zog
seinen Tabakbeutel hervor, nur um ihn gleich wieder wegzustecken. Seine Hände
zitterten verräterisch, und obwohl Davids feinen Sinnen weder das hasenhafte Flattern
seines Herzens noch der plötzliche Schweißausbruch entgangen sein durfte,
wollte er wenigstens seinen Stolz wahren. In einer solchen Situation Zigaretten
mit tattrigen Fingern zu drehen, half da wenig. Im Stillen verfluchte er seinen
Wolf, der seine Angst jedes Mal schürte, weil das blöde Vieh einfach nicht begreifen
konnte, dass David mit der Rolle des Anführers weder Hagens Unberechenbarkeit
noch seine Gewalttätigkeit übernommen hatte.
„Wenn wir das
Palais nicht halten können, dann sollten wir es verkaufen. Es kann doch eh
keiner von uns diesen hässlichen Kasten ausstehen. Weg damit“, entgegnete
Jannik und zuckte lässig mit der Achsel.
„Einfach so?
Mann, hast du eine Ahnung.“ David warf einen weiteren Blick auf seine
Rechenaufstellung, dann schlug er die Hand vor die Augen und stöhnte gequält.
„Einmal davon abgesehen, dass das Palais ein Schrotthaufen ist, sind Böden und
Wände mit Blut und Weiß-der-Teufel-was besudelt. Allein den Audienzsaal müsste
man wahrscheinlich entkernen, bevor man ihn einem potentiellen Käufer zeigen
könnte. Außerdem hat mein Wolf mich netterweise daraufhingewiesen, dass auch im
Innenhof die eine oder andere Überraschung verscharrt liegt. Hagen und seine
Gesellen haben eine echte Mördergrube aus dem Grundstück gemacht.“
„Gut, dann
verkaufen wir eben nicht“, erwiderte Jannik, der im Geist eine stolze
Palaisbesitzerin sah, die voller Eifer den Sparten schwang, um den Garten ihrer
Träume anzulegen und dabei auf einen menschlichen Schädel stieß. „Hagen hatte
doch tausend krumme Geschäfte laufen, da muss doch ordentlich Geld reingekommen
sein.“
„Klar, an Geld
herrscht kein Mangel, das gibt es quasi säckeweise in Hagens Privaträumen. Aber
ich glaube, dass Finanzamt wäre alles andere als begeistert, wenn wir versuchen
würden, ihnen die Säcke zur Begleichung unserer Schulden anzudrehen.“ David schnipste die abgebrochene Mine über
den Tisch. „Wenn ich ganz doll ‚bitte, bitte’ sage, tut der Weihnachtsmann
mir vielleicht den Gefallen und
öffnet ein tiefes Loch im Boden, in dem das Palais samt dem ganzen Mafiageld
und der Hehlerware verschwindet.“
„Ich
befürchte, um eine solche Gabe erbitten zu dürfen, hast du in diesem Jahr
einfach zu viele Menschen umgebracht.“ Mit Genugtuung stellte Jannik fest, dass
sein Wolf vor Angst so erstarrt war, dass er auf diese Frechheit dem Anführer
gegenüber nicht einmal mehr zu reagieren imstande war.
David stieß ein trockenes Lachen aus und
ging zur Anrichte, wo eine alte Kaffeemaschine vor sich hinätzte. Während er
zwei Tassen vollschenkte, musste Jannik beim Anblick seiner hinabhängenden
Schultern an Nathanel denken. Die Haltung des alten Mannes hatte sich stets
durch eine Mischung aus Kraft und gleichzeitiger Erschöpfung ausgezeichnet. David mochte zwar
Hagens Nachfolger sein, aber viel mehr noch war er Nathanels Erbe: voller
Verantwortungsgefühl, mit einem breiten Kreuz, auf dem alles ausgetragen wurde.
Kein Wunder, dass David sich bevorzugt in der Küche herumtrieb, anstatt eins
der herrschaftlichen Zimmer mit Kamin zu beziehen. Die Küche war Nathanels
Lieblingsraum gewesen, die geheime Machtzentrale des Rudels.
„Vergiss das Finanzamt“, versuchte
Jannik die Sorgen seines Freundes zu zerstreuen. „Heute ist Heiligabend und
diese Beamten werden sicherlich erst wieder im neuen Jahr aus dem Winterurlaub
zurückkehren. Weißt du was? Wir heizen uns jetzt mit Glühwein an einem der
Stände ein und sehen zu, dass wir einen echten Tannenbaum auftreiben. Den
bezahlen wir dann mit Hagens Blutgeld, und kaufen gleich noch einen Zweiten,
damit Burek was zum Bepinkeln im Garten hat. Und zur Feier des Tages spenden wir die restliche Kohle,
wenn wir eh nichts damit anfangen können. Womit wir auch gleich eine gute Tat
vollbracht hätten, ganz im Geiste der Weihnacht. Dann machen wir es uns
gemütlich, trinken noch mehr Glühwein und wenn wir genug intus haben,
heulen wir den Mond an, bis der Weihnachtsmann vor Schrecken vom Schlitten
fällt.“
„Klingt wirklich verführerisch.“ David
schenkte ihm ein schiefes Lächeln, dann drückte er Jannik einen der
Kaffeebecher in die Hand, bevor er selbst einen Schluck nahm. Augenblicklich
verzog er das Gesicht zu einer Grimasse. „Das ist eine Teer- und keine
Kaffeemaschine“, brachte er gequält hervor, was ihn jedoch nicht davon abhielt,
einen weiteren Schluck zu nehmen. „Ich würde wirklich nichts lieber tun, als
mir gemeinsam mit dir eine Alkoholvergiftung zu holen, aber ich befürchte,
diesen Heiligabend werde ich in der Hölle verbringen.“
Unschlüssig hielt Jannik den Becher
zwischen den Händen. Der Kaffee dampfte nicht, wie frisch gekochter Kaffee es
eigentlich tun sollte, dafür schwamm eine Öllache obendrauf. „Wieso Hölle?“,
fragte er verständnislos.
„Weil ich Meta in einem schwachen Moment
versprochen habe, den Heiligen Abend im Kreise ihrer Familie zu verbringen. Mit
Kirchenbesuch und allem drum und dran.“ Nun sah David nicht länger nur wegen
des Neonlichts elend aus. „Na ja, eigentlich wollte sie ganz gern, dass wir
auch die anderen Feiertage gemeinsam verbringen. Das wäre doch die beste
Gelegenheit für mich, einmal ihre gesamte Familie kennen zu lernen, hat sie gesagt.“
David schüttelte sich und stellte die Kaffeetasse mit einem ‚Plank’ auf den
Tisch, als wäre das Gebräu für sein Schaudern verantwortlich und nicht etwa die
Vorstellung, unzähligen, fein herausgeputzten Verwandten von Meta vorgeführt zu
werden. „Dummerweise habe ich ihr erzählt, dass jeder aus dem Rudel an den
Weihnachtstagen seine eigenen Wege geht. Dass die Feiertage die einzige Zeit im
Jahr sind, an denen wir unsere alten Familien besuchen oder Freunde aus
Kindheitstagen treffen. Na ja, dass wir uns wie Menschen und nicht wie Wölfe
aufführen.“
„Heißt das, du verbringst das gesamte
Weihnachtsfest mit Meta?“ Es gelang Jannik gerade so, die Panik in seiner
Stimme zu unterdrücken.
David hob hilflos die Hände. „Wir
verhandeln noch. Aber ich kann nicht behaupten, dass meine Liebste fair spielt.
Sie hat da einige Tricks auf Lager, die es mir unmöglich machen, ihr etwas
abzuschlagen.“
„Keine Details, bitte.“ Mit einem Zug
leerte Jannik die Kaffeetasse und stand auf.
Auch David sprang auf und packte seinen
Freund am Ärmel. „Warum kommst du nicht mit? Wir erzählen einfach, dass du mein
Cousin bist – das glaubt uns wegen unserer gleichen Augenfarbe eh jeder. Dann setzten
wir uns in eine Ecke und gucken uns das Spektakel an, das Metas Mutter
zweifellos inszenieren wird. Die hat garantiert einen Kinderchor eingeladen und
die Angestellten des Hauses müssen sich als Weihnachtsgnome verkleiden oder
so.“ David versuchte sich an einem überzeugenden Lächeln, das jedoch bloß
verzweifelt ausfiel. Unauffällig versuchte Jannik, seine Hand abzuschütteln und
linste zur Tür hinüber. „Ach, komm schon. Das wäre ein echter Akt von
Nächstenliebe, den du mir gegenüber erweisen würdest. Lass mich nicht allein
mit den Reichen, bitte.“
Obwohl David ihn flehentlich ansah, schüttelte Jannik den Kopf. Er hatte bereits einige
Geschichten über Metas vornehme und leicht überkandidelte Familie gehört und
bezweifelte, dass man ihn entspannt in der Ecke sitzen lassen würde. Dafür war
er ein viel zu interessantes Objekt, ein wildes Exemplar aus der Unterschicht.
So was bekam man in diesen Kreisen selten aus der Nähe zu sehen. Auch wenn David nicht
jammerte, war klar, dass er jedes Mal Blut und Wasser schwitzte, wenn er Metas
elitärer Mutter und dem kritischen Blick ihres Vaters ausgesetzt war. Und dabei
wusste David so ungefähr, wie man sich in Gesellschaft benahm. Außerdem traute
sich eh niemand, dem hochgewachsenen Mann mit der respekteinflößenden
Ausstrahlung neugierige Fragen zu stellen. Die würde alle er, der schmächtige
Junge in Davids Windschatten abbekommen, wenn diese Meute ausreichend
Champagner, Rotwein und was es sonst noch alles bei einem feinen Essen geben
mochte, intus hatten.
Allein die Vorstellung an einen vornehm
eingedeckten Tisch, an dem man sich ordentlich zu benehmen hatte, mit einem Christbaum im Hintergrund, an dem echte Kerzen brannten, verknotete Jannik den
Magen. Das kannte er nur aus Hollywood-Filmen und so sollte es auch gefälligst
bleiben. Aber noch schlimmer war die Vorstellung, David im Kreis seiner Familie
zu sehen. Denn genau darum ging es bei diesem Heiligabend. David und Meta waren
ein Paar und wenn man sich die beiden so ansah, wurde schnell klar, dass sich
daran nichts mehr ändern würde – ganz gleich, wie unterschiedlich ihre Leben
sein mochten. Obwohl David sich noch mit Händen und Füßen dagegen sträubte,
dieses Weihnachtsfest würde zu einer Art Aufnahmeritus in Metas Familie werden. Und
dabei hatte Jannik nichts verloren.
„Danke fürs
Angebot, aber ich glaub, dann hänge ich doch lieber bei Esme ab, schaue Cartoons
im Fernsehen und esse Kartoffelsalat mit Würstchen.“ Die alte Esme war seit
jeher Janniks Anlaufstelle gewesen, seit er dem Rudel beigetreten war.
„Ich dachte,
Esme hätte zum ersten Mal ihre Schwester über die Feiertage eingeladen. Hältst
du es für eine gute Idee, da aufzuschlagen? Die beiden Frauen haben sich seit Ewigkeiten nicht gesehen, weil ihre Schwester sich vor Hagen gefürchtet hat. Da
ist jeder Wolf ein Wolf zu viel.“
Jannik, der
schon an der Tür war, hielt inne und drehte sich noch einmal um. „Und warum
sollte das ein Problem sein? Mein Wolf hat vermutlich mehr Schiss vor Esmes
Schwester, als sie vor ihm. Also viel Spaß mit den oberen Zehntausend.“
Hastig schlug
Jannik die Tür hinter sich zu und ignorierte nach Kräften Davids Wunsch, dass
er zurückkehren möge, obwohl er an jeder Faser seines Körpers zerrte. Sein Wolf
sprang hervor und versuchte das Kommando an sich zu reißen, weil er trotz des
Rufs seines Anführers das Palais verließ. „Gib Ruhe, du Verräter“, knurrte
Jannik und drängte seinen Wolf gewaltsam zurück. „Immer nur vor Angst
rumwinseln, aber wenn David pfeift, sofort losrennen wollen. So nicht!“
Burek, der
draußen bei den Treppen auf ihn gewartet hatte, blickte ihn fragend aus seinen
braunen Hundeaugen an.
„Du bist doch nicht gemeint, Kumpel.“
Jannik ließ sich neben dem Mischling nieder und vergrub sein Gesicht in
dessen struppigen Fell. An Bureks Halsband klimperten rote Glöckchen, die Esme
ihm vor ein paar Tagen mit den Worten „für unseren lieben Weihnachtshundi“
umgebunden hatte. Normalerweise hätte Burek sich als stolzer Straßenköter solch
ein Geklimper verbeten, aber bei Esme machte er eine Ausnahme.
Gemeinsam brachen sie auf, ließen schon
bald die verwaisten Bürgersteige ihres Viertels hinter sich und hielten auf die
belebten Straßen der Innenstadt zu. Überall waren gut gelaunte Menschen
unterwegs, schlenderten umher, Tüten mit gebrannten Mandelkernen oder
Zuckerwatte in den Händen haltend. Man blieb stehen, schaute überdrehten
Kindern mit roten Weihnachtsmannmützen zu und hielt ein Schwätzchen.
Solche Bilder gab es in dieser Stadt
tatsächlich nur in der Weihnachtszeit zu sehen, ansonsten mieden die Menschen
die Straßen dieser Stadt, als ahnten sie, dass sich Jäger in den Schatten der
Häuserschluchten verbargen, die in ihnen jagenswerte Opfer sahen. Vermutlich
hatte David Recht, wenn er sagte, dass die Wölfe um diese Jahreszeit ruhten und
ihren Hütern dadurch die Möglichkeit gaben, Mensch zu sein. Er selbst konnte
das schlecht beurteilen, denn sein Wolf zeigt kein Interesse an der Jagd. Deshalb
war es ihm auch noch nie passiert, dass ein Mensch ihn angsterfüllt angeschaut
hatte. Erlebnisse, wie David sie mit seiner Mutter Rebekka erlebt hatte, und
über die er nie hinweggekommen war, kannte er nicht. Vielleicht aber lag es
auch daran, dass Jannik keine Familie kannte.
Er schluckte, als ihm bewusst wurde,
dass er keine Ahnung hatte, wo er heute Abend hingehen sollte. Nicht mehr
lange, dann würden die Straßen verwaist und die bunt erleuchteten Geschäfte und
Stände geschlossen sein. Dann würde er sich seiner Einsamkeit stellen müssen.
Gut, da war das Palais, aber vor dem Gedanken grauste es ihm. Er
würde allein sein, denn Burek ließ sich nicht einmal mit den besten Leckerlis
der Welt in dieses nach Blut und Todesangst stinkenden Gebäude locken.
Mit einem Anflug von Verzweiflung
steckte sich Jannik die Stöpsel seines MP-3-Players in die Ohren, weil er die
von überall hertönende Weihnachtsmusik plötzlich nicht mehr hören konnte. Leise
summte er die Melodie des Rockstücks mit, das David ihm aufgespielt hatte. „Das
könnte glatt unsere Hymne sein“, hatte David mit einem Grinsen gesagt. „Die
richtige Hymne für uns Wölfe.“
I walk this empty
street
On the Boulevard of
Broken Dreams
I walk alone
My shadow's the only one that walks beside me
Jannik wollte schon den Weg einschlagen, der ihn
möglichst rasch vom gutgelaunten Feiertagstrubel fortbringen würde, doch sein
Wolf ließ ihn vollkommen unvermittelt und mit aller Macht an Ort und Stelle
stehen bleiben. Wie angewurzelt. Ein kleines Mädchen rannte gegen ihn und
aus ihrer Tüte mit Schmalzkuchen ergoss sich eine Ladung Puderzucker auf seinen
Parka. Sie schob sich die Mütze aus der Stirn und schaute ihn vorwurfsvoll an.
Sie hatte die Pausbacken einer Fünfjährigen, die wegen der Kälte rot leuchten.
Der Schal um ihren Hals war mit Rentieren bedruckt. Ihre Lippen bewegten
sich, doch Jannik konnte kein Wort verstehen, bis er die Musik ausstellte.
„Was?“, fragte er.
„Man sagt nicht ‚was’, sondern ‚wie
bitte’. Und man bleibt nicht einfach stehen. Das ist unhöflich.“
„Klugscheißen auch“, erwiderte Jannik,
der die Kleine mit einem Mal gar nicht mehr so niedlich fand.
Bevor das Mädchen etwas erwidern konnte,
wurde es von einer Frau an die Hand genommen und weggezerrt. „Hanna, man
spricht nicht mit Fremden.“ Die Frau warf Jannik noch einen prüfenden Blick zu
und als sie erkannte, das es sich bei ihm um keinen Triebtäter handelte,
schenkte sie ihm ein Lächeln und deutete mit dem Zeigefinger auf die
Puderzuckerwolke auf seinem Parka. „Sie haben da was.“ Dann verschwand sie samt
Hanna auch schon im Gewühl.
Die Versuche, den Puderzucker mit der
Hand abzustreifen, führten lediglich dazu, dass der Fleck größer wurde.
„Großartig. Sieht aus wie eine Zielscheibe, direkt auf meinem Bauch“, seufzte
Jannik. Doch nicht einmal Burek schien sich für seine Sorgen zu interessieren.
Der Hund hatte die Ohren aufgestellt und im nächsten Moment jagte er einfach
davon. „Burek, komm zurück!“ Das durfte doch einfach nicht wahr sein, nun ließ
ihn auch noch sein eigener Hund im Stich. Jannik verschränkte die Hände hinter
dem Nacken und zwang sich, tief einzuatmen. Was gar nicht so leicht war, weil
ihn ständig schwer bepackte Leute anrempelten. Von Besinnlichkeit keine Spur.
„Hallo, Jannik. Du hast dir aber einen
seltsamen Ort für Entspannungsübungen ausgesucht.“
Der Wolf in Janniks Inneren tänzelte vor
Freude um die eigene Achse, sodass Jannik gar nicht erst hinsehen musste, um zu
wissen, wer vor ihm stand. Eine solche Wirkung auf die Wölfe hatte nur Meta,
Davids Freundin. Deshalb hatte sein Wolf ihn also zum Anhalten gezwungen, er
hatte ihr unbedingt begegnen wollen.
Meta hatte ihr blondes Haar unter einer
Wollmütze gesteckt und statt eines Mantels trug sie etwas, für das Jannik
keinen Namen kannte. Eine Art Umhang. Aber es war ganz bestimmt der letzte
Schrei, das war es bei Metas Klamotten immer. Wieder einmal staunte er darüber,
dass sie sich ausgerechnet David ausgesucht hatte, dessen komplette Garderobe
ausschließlich aus Jeans und T-Shirts bestand, und der Anzüge für die Berufskleidung
von Bestattungsunternehmern hielt.
„Hallo, Meta“, grüßte Jannik zurück. Bei
ihrem Anblick war ihm gleich leichter ums Herz. Sie hielt ein in Zeitungspapier
gewickeltes Paket in den Armen und roch nach Gewürztee mit Rum. „Noch auf die
Schnelle ein Geschenk besorgt?“
„Das ist ein Adventskranz für Rahel. Sie
feiert Weihnachten zwar nicht, aber das heißt ja noch lange nicht, dass sie auf
Dekoration verzichten muss. In ihrer Wohnung gibt es nicht einmal einen
Nikolaus oder einen Engel, es ist so traurig.“
Rahel war Metas Freundin und jüdischen Glaubens. Jannik hatte eine Schwäche
für diese Frau, vor allem für ihre Rundungen, von denen es an Rahel mehr als
genug gab. Leider strafte sie ihn die meiste Zeit über mit Ignoranz. Sie hatte
nicht viel übrig für Wölfe, und schon gar nicht für solche, die in ihrer Nähe
zu sabbern begannen.
In diesem Augenblick trat Rahel dazu und
bedachte Jannik sogleich mit einem strafenden Blick. „Dein Hund hat keinen Sinn
für Anstand“, ließ sie ihn unumwunden wissen. Sie verpasste Burek, der sich an
ihre Beine drängte, einen leichten Klaps auf die Schnauze, was den Hund jedoch
nicht davon abhielt, weiterhin an ihr herumzuschnüffeln.
„Hast du dir vielleicht Weihnachtspunsch
über die Hose gegossen? Irgendwas an dir muss ja gut riechen“, brachte Jannik
als Ausflucht hervor, während er seinen Hund ernsthaft darum beneidete, Rahel
so nah zu sein.
Doch anstelle einer Antwort stierte
Rahel ihn nur wütend an. Meta, der der kleine Schlagabtausch sichtlich
unangenehm war, drückte Jannik das Paket in den Arm. „Halt bitte mal, sonst
breche ich noch zusammen. Du musst wissen, dass Rahel sich standhaft
weigert, mein Geschenk anzunehmen.“ Nachdenklich musterte Meta ihn. „Was machst
du eigentlich heute Abend, Jannik? Willst du nicht bei uns mitfeiern? David uns
ich sind bei meinen Eltern, das ist immer wunderschön. Fast wie im Kino. Wäre
das nicht was für dich oder hast du schon eine Verabredung?“
„Ich scheiß auf Weihnachten.“ Das kam
sehr barsch heraus, aber Jannik hatte allmählich die Nase gestrichen voll,
damit konfrontiert zu werden, dass er keinen anständigen Plan für den 24.
Dezember parat hatte.
„Gut ausgedrückt, du unkultivierte
Bestie“, erwiderte Rahel spöttisch.
Meta seufzte. „Heute blitze ich mit
meinen Einladungen auch nur ab. Rahel hat mir ebenfalls einen Korb gegeben.
Hoffentlich hat es David sich in der Zwischenzeit nicht auch noch anderes
überlegt.“ Kaum dass sie das gesagt hatte, klingelte ihr Handy. Hastig blickte
sie auf die Nummer. „Noch einmal Glück gehabt, es ist nur meine Mutter.“ Doch
das Lächeln verging Meta schon nach einigen Sätzen. „Notfall“, erklärte sie,
sobald sie aufgelegt hatte. „Meine unfassbar idiotische Schwester hat versucht,
eine alte Lichterkette anzuschließen und dabei einen Stromschlag erlitten. Es
scheint nichts Wildes passiert zu sein, aber meine Mutter steht kurz vorm
Herzinfarkt. Ich muss sofort los. Jannik, sei ein Schatz und bring das Paket zu
Rahel nach Hause, ja? Frohe Weihnacht euch beiden!“
Meta wartete nicht einmal seine
Zustimmung ab, sondern suchte sich bereits einen Weg durch die Menge, sich
lautstark selber fragend, wie sie jetzt auf die Schnelle bloß an ein Taxi
kommen solle. Offensichtlich glaubte sie nicht an Wunder, nicht einmal an
diesem besonderen Tag.
„Ich kann das Paket allein tragen“,
behauptete Rahel und wollte es Jannik abnehmen, doch der ließ nicht los.
„Die Chefin hat gesagt, ich soll es zu
dir nach Hause tragen“, hielt er mit erstaunlich fester Stimme dagegen, sodass
Rahel tatsächlich die Hände zurückzog.
„Hast du denn nichts Besseres zu tun?
Mit irgendwelchen Freunden rumhängen, Familie oder so?“
Obwohl es Jannik unangenehm war, seine
Ziellosigkeit für den Heiligen Abend zu offenbaren, antwortete er ehrlich:
„Nein.“
„Na, dann will ich dich nicht von deiner
Pflicht abhalten.“ Rahel schlug zwar einen ironischen Ton an, aber Jannik
glaubte tatsächlich Erleichterung auf ihrem Gesicht zu erkennen.
Schweigend ließen sie die sich langsame
leerende Innenstadt mit ihren unzähligen Weihnachtsbäumen, dem
Lichterkettenmeer und den aus unzähligen Boxen dröhnenden Merry-Christmas-Liedern
hinter sich, und kamen in eine Wohngegend mit roten Backsteinhäusern. Die
Dämmerung ging in eine sternenlose Nacht über, der Wind frischte auf
und trieb Schneeflocken mit sich. Warmes Licht fiel aus den Fenstern, von dem
Jannik sich magisch angezogen fühlte. Immer wieder versuchte er in die Zimmer zu spähen,
doch die meisten Fenster lagen Hochparterre, sodass er sich lediglich ausmalen
konnte, was sich hinter den Wänden abspielen mochte. Extra hübsch zurecht
gemachte Kinder mit vor Aufregung geröteten Gesichtern, Väter, die mit
würdevollen Mienen den Festbraten zerlegten, Großeltern, die mitten im Getöse
im Sessel eingenickt waren. Das flüsterte ihm zumindest seine Phantasie zu,
denn in Wirklichkeit hatte Jannik keine große Ahnung, wie man einen Heiligen
Abend so verbrachte, dass es sich richtig anfühlte. Die Heiligabende im Heim
waren eher deprimierend gewesen und nachdem er zum Rudel gestoßen war, war er
meist an einem Mitglied hängen geblieben, dass nicht viel Wert auf
Feierlichkeiten legte – ansonsten wäre es ja auch bei seiner Familie oder
andere ihm nah stehende Menschen gewesen.
Schließlich blieb Rahel vor einem
Wohnhaus stehen und sah zum Himmel empor. „Das mit dem Schnee ist eine schöne
Sache, da werden sich die Kids morgen früh vor Freude gar nicht mehr
einbekommen. Mein Bruder und ich fanden das jedenfalls immer großartig, wenn
Weihnachten Schnee lag.“
„Deine Familie hat also doch Weihnachten
gefeiert?“, fragte Jannik, obwohl ihm eine aufsteigende Traurigkeit die Kehle
zuzudrücken begann. Die Eingangstür von Rahels Haus war mit roten Bändern und
Tannenzweigen geschmückt. Jemand hatte mit weißem Schaum Glocken und Engel auf
die Scheiben gezaubert. Grauenhaft kitschig und wunderschön zugleich.
„Warum nicht?“ Rahels Blick war
weiterhin nach oben gerichtet. Kurz glaubte er etwas in ihren Augen glitzern zu
sehen, dann wendete sie sich auch schon ein Stück von ihm ab. „Es ist das Fest
der Liebe, Menschen feiern es überall auf der Welt. Es geht in erster Linie
darum zusammenzusein, der Kälte und Einsamkeit des Winters etwas
entgegenzuhalten.“
„Dann verstehe ich nicht, warum du Metas
Einladung ausgeschlagen hast.“
Rahel senkte den Blick und der Ausdruck
auf ihrem Gesicht traf Jannik so unvermittelt, dass er einen Schritt
zurücksetzte. Trauer und Einsamkeit, aber auch der feste Willen, sich davon
nicht kleinkriegen zu lassen. Sie hatte ihre Freundin abgewiesen, weil sie es
nicht ertragen hätte, bei der Feier nicht dazuzugehören, außerhalb des Kreises
zu stehen. Während Jannik sie ansah, war ihm, als wenn er in einen Spiegel
blickte.
„Weihnachten ist nichts für einsame
Wölfe wie uns beide“, bestätigte Rahel seine Vermutung. Sie versuchte sich an
einem tapferen Ausdruck, doch irgendwo hinter den erleuchteten Fensterscheiben
setzte eine Familie zum Singen an. „Ich habe ‚Es ist ein Ros entsprungen’ schon
immer gehasst.“ Sie blinzelte und griff entschlossen nach dem Paket, das Jannik
jedoch nicht loslassen wollte. Seine Finger waren wie festgefroren, während der
Druck auf seine Kehle stetig zunahm, sodass er kaum noch Luft bekam.
Rahel zog noch einmal an dem Paket, dann gab sie auf. „Fein, behalt den
dämlichen Adventskranz eben. Ich weiß eh nicht, was ich damit anfangen soll.
Schönen Abend noch.“ Mit einer ruppigen Bewegung drehte sie sich um und
verschwand im Hausflur.
Jannik blieb mit dem in
Zeitungspapier eingeschlagenen Kranz stehen, bis er feststellte, dass Burek
nicht neben seinen Füßen saß. Der Hund musste Rahel gefolgt sein, als sie die
Haustür aufgestoßen hatte. Jannik schluckte schwer, dann noch einmal. Bevor die
Einsamkeit die letzten Dämme seiner Selbstbeherrschung einreißen konnte, ging
auf der oberen Etage ein Fenster auf und Rahels Lockenkopf kam hervor.
„Dein Köter liegt auf meinem Sofa und
weigert sich runterzugehen“, ließ sie ihn wissen. „Warum
kommst du nicht hoch und setzt dich neben ihn? Also ... falls du da unten nicht
festgefroren bist. Dann zünden wir diesen albernen Kranz an, damit Meta zu
guter Letzt doch noch ihren Willen bekommt.“
Ohne seine Antwort abzuwarten, knallte
Rahel das Fenster zu. Einen Moment blieb Jannik noch mit erhobenem Gesicht
stehen, schloss die Augen und spürte, wie einzelne Flocken auf seinen
brennenden Wangen landeten. Eine zärtliche Berührung, genau so fein wie der
Klang der hohen Kinderstimmen. In seinem Inneren grummelte der Wolf ermunternd,
bevor er sich zur Ruhe legte. Mit schnellen Schritten war Jannik bei der
Eingangstür und durch sie hindurch. Draußen glitzerte die feine Schneedecke im
Licht der Laternen und bedeckte nach und nach seine Spuren.