Montag, 5. Oktober 2015

Wann ist ein Buch gelungen?


Wann ist ein Buch gelungen?
Eine schwierige Frage.
Gibt es da so eine Art Checkliste, anhand der man das festmachen kann?, möchte ich glatt zurückfragen.
Natürlich gibt es die, davon kann man ja überall lesen, wo Menschen über Bücher schreiben. Beliebt sind die Kriterien „War der Prota sympathisch?“ (unsympathisch gilt neuerdings als prinzipiell schlecht, weil: kein Identifikationspotential. Also genau das, was in der Klick-Gesellschaft die harte Währung ist). Schön ist auch immer „hatte das Buch etwas komplett Neues zu erzählen?“ oder „Also, Ich-Perspektive geht ja mal gar nicht“.
So kann man die Frage nach dem gelungenen Buch natürlich stellen. Muss man aber nicht, das geht auch anders.
Versuchen mag ich es trotzdem nicht wirklich. Zum einen habe ich etwas gegen Rückblicke, sie verdrängen die Gegenwart, die ja eh so anstrengend flüchtig ist. Da denke ich ganz pragmatisch: Ich habe meine Bücher geschrieben und damit sind sie zu einem Teil von mir geworden. Manche zu einem lauten, andere zu einem verborgenen Teil, wobei schwierig zu sagen ist, wer mehr Einfluss nimmt. Vermutlich die Verborgenen, so ist es ja meistens. Auf jeden Fall beeinflussen sie schicksalhaft alle künftigen Bücher, ohne dass ich extra ein „Tanja sucht ihr Superbuch“ daraus mache. Außerdem ist der Blick nach vorn eh spannender. Lockendes Neuland anstelle von längst abgegrasten Feldern.
Und dann gibt es noch dieses „Gelungen oder nicht?“-Kriterium bei der Roman-Olympiade. Auch tricky. Verkaufszahlen kann man hier getrost vergessen. Leserfeedback vielleicht? Dazu müsste ich so etwas lesen, was ich nicht tue – in meinem Kopf reden schon genug Leute durcheinander und wollen beurteilen und noch häufiger beeinflussen, was ich mache. Dann vielleicht die Adelung von Profiseite wie Lektorenliebe, Journalistenlob und Agentenbegeisterung? Das wäre ja fast so, als würde man sagen: Gelungen sind nur die Kinder, die später ein Medizinstudium abschließen.
Bleibt noch die Intention, ein Buch zu schreiben. Die fällt ja nur leider oftmals sehr verschieden aus und taugt somit nicht für den Vergleich. Wenn die Intention denn überhaupt mal klar ist, meist schreibt man ja in erster Linie leicht besessen vor sich hin, bis man plötzlich ein Buch hat. Ich glaube meist zu wissen, warum ich eine Geschichte unbedingt aufschreiben muss – und erkenne erst viel später, meist ohne drüber nachgedacht zu haben, den wahren Grund. Ja, ja, das Verborgene in uns ...
Wann ist ein Buch gelungen? Vielleicht wenn man das Wort Ende drunterschreiben kann. Nicht wortwörtlich, sondern so ganz allein für sich in Gedanken. Also so gut wie nie.

Mittwoch, 10. Dezember 2014

Die alte Angst


Eine der häufigsten Fragen überhaupt, die Autoren zu hören bekommen, lautet: Warum schreibst du eigentlich?
Vor der Antwort drücke ich mich normalerweise oder rette mich in Phrasen wie „Weil es Spaß macht“. Stimmt natürlich, verrät aber nicht die wahre Motivation. Die wichtigen Dinge im Leben haben in ihrem Ursprung wenig mit fun und Lustigsein zu tun, sie speisen sich aus tieferen Schichten. Ich liebe meinen Mann ja nicht deshalb, weil ich mich so gut mit ihm amüsiere. Und der Garten wird auch nicht gepflegt und gehegt, weil das Unkrautzupfen mir Jubeljauchzer entlockt. Spaß ist ein netter Nebeneffekt bei Dingen, die man selbst dann nicht seinlassen kann, wenn der Spaß sich längst verabschiedet hat. So ist das eben auch mit dem Schreiben.
Allerdings habe ich mir selbst auch lange Zeit keine Antwort auf diese Frage gegeben. Diese Weigerung lässt sich wunderbar verpacken in den Aberglauben, dass gute Geister besser im Verborgenen wirken. Warum einen Gedanken an etwas verschwenden, das plötzlich mit voller Wucht in mein Leben getreten ist und es seither bestimmt? Ja, warum bloß ...
Einen ersten Verdacht, was es mit diesem unvermittelt ausgebrochenen Verlangen, eigene Geschichten zu schreiben, auf sich hat, kam mir mit der Idee zum „Walfischknochen“. Die Geschichte von Ruben und Arjen war nicht nur so dominant, dass ich beschloss, mich in einem neuen erzählerischen Wasser zu tummeln. Sondern auch weil ihr zwei Impressionen vorweggingen, die mich so stark berührten, dass sie mich bis heute mit überwältigender Intensität anrühren. Eins dieser Bilder habe ich bereits in der Danksagung des „Walfischknochens“ beschrieben: Ein blonder Junge klettert aus einem Fenster, durch das die Sonne einfällt, sodass er einer Erscheinung gleicht. Ätherisch, kaum einzufangen in seiner Leichtigkeit. Er wirft noch einen Blick über die Schulter und in seinem Gesicht ist dieses Lächeln, das ganz für den Moment steht, für Unbeschwertheit und Glück. Dieses Bild gibt den Romanauftakt, seinen Abschluss findet er jedoch in einem zweiten, weitaus eindringlicheren Bild: Der Junge liegt leblos am Boden. Es ist unwichtig, was geschehen ist, entscheidend ist die Erkenntnis, dass der Tod den Schlusspunkt setzt. Alles, was diesen Jungen ausgemacht hat, ist vorbei. Die Erinnerungen werden ihn nicht wieder lebendig machen, auch das Aufschreiben seiner Geschichte nicht, die gehört nur denjenigen, die noch am Leben sind. Trotzdem habe ich genau das getan, seine Geschichte aufgeschrieben. Dabei habe ich mir eingeredet, dass ich es vor allem tue, um diesen ersten goldenen Moment einzufangen, diesen Augenblick, in dem alles möglich scheint, den man geradezu schmecken und wie Sonnenlicht auf der Haut spüren kann.
Es hat noch einen weiteren Roman gebraucht, bis ich verstanden habe, dass es der Schlussakkord des „Walfischknochens“ war, der mich von Anfang an zum Schreiben angetrieben hat. Oder vielmehr: er hat mich vor sich hergetrieben, regelrecht gejagt. Und ich hatte geglaubt, ich könnte ihm entkommen, wenn ich mich im Erzählen verliere. Nun, trotzdem war das Ende das Ende. Hinter dem Schreiben verbirgt sich nämlich nichts anderes als die alte Angst vorm Tod. Nicht vorm persönlichem Aus, dem die meisten Menschen ja erstaunlich gelassen entgegensehen. Es ist die Erkenntnis, dass alles endet, egal wie lebendig es war. Auch blonde Jungen, die lachen. Natürlich wurde diese Wahrheit schon oft in Worte gefasst, sie klingt geradezu abgegriffen. Ich bin mir nicht einmal sicher, wie ich auf dieses „Wir erzählen, weil wir den Tod fürchten“ vorher reagiert habe, vermutlich mit dem handelsüblichen Schulterzucken, mit dem man Kalenderweisheiten abtut.
In dem „Haus am Fluss“, an dem ich das ganze Jahr über gearbeitet habe, erzählt meine Heldin Marie, dass sie nach der Geburt ihres Sohnes lange Zeit unter der Angst litt, sie könnte eines morgens aufwachen und das Kind tot im Bett liegend vorfinden. Diese Angst war die erste große Verletzung, die sie im Leben erfahren hat, nicht vergleichbar mit dem ersten Liebeskummer oder dem Auszug von Zuhause. Es kratzt an unserem Grundvertrauen, wenn wir begreifen, dass es nicht mehr als einen Zufall braucht, um ein Leben auszulöschen. Und es kann eben unerträglich sein, mit dem Wissen, was es nicht mehr gibt, leben zu müssen. Wir können den Umstand hinnehmen, in seiner Reinheit aber kaum auszuhalten. Als ich über Maries Angst, ihr Kind zu verlieren, schrieb, fiel mir wieder ein, wann ich mit dem Schreiben begonnen hatte. Mein Sohn hat ungefähr mit vier Monaten solange durchgeschlafen, dass ich genug Zeit fand, den Laptop zu öffnen und Spaß zu haben. Manchmal muss man über ein Dutzend Romane schreiben, um zu begreifen, was man da eigentlich tut.



Freitag, 11. Juli 2014

Wie wir werden, wer wir sind


Es liegt an der Kindheit, an der Jugendzeit – schon klar.
Als Mutter eines Achtjährigen schaue ich auf mein Kind mit seinen Interessen, Neigungen und der langen Liste an Dingen, die es verabscheut, und stelle fest: Viele Spuren waren bereits früh gelegt, sodass ich eher selten die Chance bekomme, bei künftigen Wegentscheidungen mitzumischen. Genau das ist jedoch oft die Hoffnung von uns Eltern, wir sehen es ja als eine unserer wichtigsten Aufgaben, den Wegweiser zu spielen („Käfer in Gläser einzusperren, ist zwar spannend. Aber! denk doch mal den aaarmen Käfer.“ Nicht dass aus dem Kind später noch ein Sadist wird oder gar ein skrupelloser Wissenschaftler).
Dabei beeinflussen wir unsere Kinder oft.
Manchmal öfter als uns lieb ist, etwa wenn wir wieder einmal den Samstagvormittag im Bett vertrödeln, anstatt energiegeladen in den Tag durchzustarten und seine Möglichkeiten bis zur Neige auszukosten. Oder ganz schlimm: wir wollen auch unbedingt einen Burger von McD.
         Es scheint also nicht ganz verkehrt, sich einzugestehen, dass man Einfluss verübt, ohne diesen Vorgang beeinflussen zu können. Und mit dem Ergebnis leben muss man dann später auch noch.
So hat das zumindest meine Mutter gesehen, als ich mit Vierzehn plötzlich anfing, mein mühsam zusammengekratztes Taschengeld in Stephen King-Romane zu investieren. Dabei muss gesagt werden, dass Frau Heitmann alle anderen Autoren und Autorinnen akzeptierte, die damals Einzug in mein Bücherregal hielten. Sogar Anais Nin, die sich ein Jahr später mit ihren erotischen Geschichten dazugesellte, und noch ein Jahr später Bret Easton Ellis mit „American Psycho“ (vermutlich weil sie nach den ersten Seiten Marken-Namen-Reizüberflutung erlitt und deshalb nicht herausfand, wovon der Roman sonst noch so handelte). King jedoch stand für all das Schlechte, vor dem sie ihre Tochter schon immer hatte bewahren wollen, angefangen bei der vulgären Sprache, den expliziten Gewaltszenen und den überaus verstörenden Horrorelementen. Es gehörte gewiss viel Stärke dazu, meine Schätze wie „Brennen muss Salem“ und „Es“ als Erziehungsberechtigte nicht kurzerhand zu beschlagnahmen und im Altpapier zu entsorgen. Frau Heitmann hat sogar versucht, diese ach so abstoßenden Werke zu lesen, was ich ihr hoch anrechne.
Als ich fünfzehn Jahre später selbst mit dem Schreiben angefangen habe und meine Mutter seitdem vermutlich zu meinen begeistertsten Leserinnen gehört, hat sie zu mir gesagt: „Ich habe mir damals wegen dieser Horrorromane wirklich große Sorgen gemacht. Wie gut, dass ich dir vertraut habe. Offenbar hat dieser Schmierfink King einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf dich gehabt, aus dem du glücklicherweise etwas ganz Eigenes gemacht hast.“ Da hat Frau Heitmann Recht. Die Liebe zur Spannung, Figurenzeichnung und Familiegeschichte habe ich beim Lesen eben jener Romane erlernt. Allerdings gab es jemanden, der mich zuvor auf den Geschmack gebracht hatte, sodass ich das Verstörende, das Herzrasen und Angstattacken verursacht, überhaupt an mich ranließ.
Die Sommerferien gehörten während meiner Kindheit meinen Großeltern. Sie hatten ein Haus mit großem Garten, in der Nähe gab es einen Kanal und den besten Wald aller Zeiten. Ihre Enkelkinder waren willkommen und manchmal waren drei oder vier auf einmal zu Besuch. Für mich war es ein besonderer Glücksfall, wenn ein bestimmter älterer Cousin mit von der Partie war – aus gutem Grund. Er war gerade in Kometengeschwindigkeit in Richtung Pubertät unterwegs und besaß nicht nur einen tragbaren Kassettenrekorder, sondern auch eine Sammlung Horrorkassetten. Wenn die Großeltern abends im Wohnzimmer saßen, die Tageschau und anschließend „Zum Blauen Bock“ schauten, dann saßen wir zwei unterm Küchentisch. Es gab Ravioli aus der Dose oder Nutella vom Esslöffel, dazu hörten wir „Draculas Schloss“. Mein Großvater hätte diesem verantwortungslosen Halbstarken vermutlich die Hammelbeine langgezogen, hätte er jemals herausgefunden, in welche Geheimnisse der Erzählkunst seine zehnjährige Enkelin eingeführt wurde, anstatt mit frisch geputzten Zähnen im Bett zu liegen. Doch dafür war der „Blaue Bock“ schlichtweg zu fesselnd. Und ich bemühte mich sehr, nachts vor Angst lautlos ins Kissen zu wimmern. Das hatte mir mein Cousin ausgiebig eingebläut. Aber auch so hätte ich alles dafür gegeben, nicht aufzufliegen. Die mitreißenden Gefühle, die die Gruselgeschichten auslösten, waren die Panikattacken mehr als wert. Als später in Kings „Shining“ Geister einem kleinen Jungen das Leben schwer machten, war ich bereits gewappnet.
Es ist schwer zu sagen, was uns ausmacht. Welche Erfahrungen wir machen müssen, die sich als entscheidende Wegweiser entpuppen. Ob ich meinem Sohn deshalb „Draculas Schloss“ unterm Küchentisch vorspiele? Gewiss nicht. Und falls ich jemanden dabei erwische, wie er es tut, ziehe ich ihm die Hammelbeine lang. Schließlich bin ich die Enkelin meines Großvaters.

Mittwoch, 4. Juni 2014

Kinders Kinder


Die Vorliebe meines Sohns mit Schwarz zu malen, verleitete seine Grundschullehrerin zu dem Hinweis, wir sollen uns dringend einmal Gedanken darüber machen, was das wohl bedeute. Wir haben uns keine Gedanken gemacht, sondern ihn gefragt. Seine Antwort war einleuchtend: „Schwarz knallt ordentlich.“ Da hat der Junge Recht. Schwarz steht für Drama – und das kann man gebrauchen, wenn die Zeichnungen technisch noch nicht so gut sind, wie sie es den Bildern im Kopf nach sein sollten. Eine Freundin legte der Schule ihres Sohns ein psychologisches Attest darüber vor, dass die verträumte bis geistesabwesende Art ihres Kindes auf seine Persönlichkeit und nicht auf eine wie auch immer geartete Störung zurückzuführen sei. Während eine andere Freundin mit Grabesmiene verkündete, ihrer Jüngste würde im Leben nichts Gutes blühen, denn sie sei schlicht zu eigen, eine solche Ader würde nur Probleme mit sich bringen. Gebe es eine Schraube beim Kind, die man anziehen kann, damit die Eigensinnigkeit nivelliert wird, wäre die Verführung für die Eltern gewiss groß, aus der kleinen Eigenbrödlerin einen Sonnenschein zu machen.

Was steckt hinter dem Wunsch, kleine Menschen in eine Form zu pressen und über jene Teile zu klagen, die trotz aller Mühen weiterhin über die Ränder hängen und der Perfektion trotzen? Oder viel mehr noch: Urteile über sie zu fällen, deren Grundlage eine offenbar immer engere Norm bildet? „Natürlich bist du genau so richtig, wie du bist. Aber ich mache mir zugleich schreckliche Sorgen, weil du nicht so bist, wie du sein solltest“, scheinen viele Menschen über die Kinder in ihrem Leben zu denken. Wir brauchen Wiedererkennungswerte für eine Beurteilung, oder auch um uns in jemand anderen hineinzuversetzen. So gesehen sollte es für uns Großen doch ein Klacks sein, einfach auf unsere Kindheit zurückzublicken und zu überlegen:
  • neigte ich als Kind zu Depressionen, weil ich gern allein auf meinem Zimmer gespielt habe, wenn draußen Bombenwetter die Spielplätze zum Bersten brachte?
  • legte ich eine asoziale Neigung an den Tag, wenn ich meine kleine Cousine vom Sofa geschubst habe, weil sie sonst wie eine Klette an mir klebte?
  • verrieten die vielen Lügen, mit denen ich mich durch den Tag schummelte, meinen unsteten Charakter?

·         Wohl eher nicht.
Und wenn ich ganz ehrlich bin, hocke ich heute noch gern auf meinem Zimmer, halte mir Nervensägen vom Hals und flunkere, wenn es meinen Weg zu glätten scheint. Man ist halt eine komplexe Persönlichkeit mit Stärken und Schwächen, wobei einige Stärken wie Durchsetzungswille, Energiegeladenheit, Phantasie und Selbstständigkeit eben auch unsympathisch wirken können – und die meisten Schwächen eh.
Wir Erwachsenen gönnen uns unsere Komplexität. Schließlich haben wir die Entwicklungskurve erfolgreich abgeschlossen, während das Beharren auf die eigene Persönlichkeit bei Kindern schnell als verdächtig gilt. Wenn man nachfragt, was dieses und jenes seltsame Kind denn ändern müsse, damit die Erwachsenen erleichtert aufatmen, kommt man rasch einem Idealbild vom Kind auf die Spur: Der normale Zwerg soll bitteschön offen und auf angenehme Weise an Gott & der Welt interessiert sein, gut gelaunt und ausgeglichen, sportbegeistert, friedfertig und allzeit bereit zu einem Lachen aus tiefsten Herzen. Ich persönlich kenne nicht gerade viele Erwachsene, die auch nur die Hälfte dieser (gewiss unvollständigen) Liste erfüllen. Desto mehr wundert es mich, dass von kleinen Menschen, bei denen ein Entwicklungsschub den nächsten jagt, ein solches Ideal gefordert und damit zur Norm erhoben wird. Ich muss dabei unwillkürlich an den Gruselfilm „Die Frauen von Stepford“ denken ...

Anständige Kindergeschichten enden immer mit einer Moral, damit aus den Kleinen bessere Menschen werden. Mein Blog endet einfach nur mit einem Stirnrunzeln, bevor ich mich in die dunkelste Ecke unseres Haus zurückziehe und ein schwarzes böses Herz auf den Zeichenblock meines Sohnes male.

Dienstag, 3. Dezember 2013

Weihnachtsmond - Eine winterliche Geschichte


Tatarata - pünktlich zur kalten Jahreszeit ein Wiedertreffen mit den Figuren aus "Wintermond"! Ich wünsche Euch eine schöne Adventszeit, mit einem warmen Plätzchen und viel Muse zum Lesen. Denn dafür wurde der Winter schließlich erfunden, nicht wahr?



Weihnachtsmond 

von
Tanja Heitmann


Die Einkerbung zwischen Davids Augenbrauen wurde tiefer mit jeder neuen Zahlenreihe, die er in den Taschenrechner tippte. Düster stierte er das notierte Ergebnis an, dann zerriss er das Blatt Papier mit einem Fluch in zwei Teile. Fast wäre Jannik auf halbem Weg umgedreht, aber da sah David auf und nickte ihm zur Begrüßung zu. 
      Ein Blick aus den vertrauten blauen Augen genügte, um Jannik sein Unbehagen vergessen zu lassen. „Hi, gibst du dir Mühe, weihnachtliche Stimmung zu versprühen?“, fragte er leichthin.
Erneut heulte Janniks Wolf auf, ein Warnruf. Der zweite übrigens, seit der Junge die Küche des Palais betreten und David über einem Stapel Rechnung brütend vorgefunden hatten. Das Licht der Leuchtröhren ließ Davids eh schon markanten Gesichtszüge noch stärker hervortreten und verpasste seiner Haut einen ungesunden Anstrich. Fast als wäre ihm übel ... Den Plastiktannenbaum mit der im Herzschrittmachertempo blinkenden Lichterkette, den Jannik in einer Anwandlung von Feierlichkeit auf den Resopaltisch gestellt hatte, war in eine Ecke hinter seinem Rücken verbannt worden. Nun ja, es gelang dem guten Stück mit dem Knick im Stamm und der Staubschicht, die an dreckigen Schnee erinnerte, eh nicht, weihnachtliche Stimmung zu verbreiten.
Zögernd trat Jannik an den Tisch, während der Wolf in seinem Inneren einen nervösen Tanz hinlegte. Dem Rudeltier gefiel ein gestresster Anführer gar nicht, aber Jannik sah in David keinen Anführer, sondern seinen Freund, der versuchte, aus Hagens doppelt und dreifacher Buchführung schlau zu werden, bevor ihnen der Palais unter dem Hintern weggepfändet wurde. Jannik erinnerte sich an den Beutel mit Lebkuchen, den er im Vorbeigehen von einem der Stände auf dem Weihnachtsmarkt stibitzt hatt. Zwar waren nur noch ein paar Reste drin, weil sein Hund Burek die meisten Lebkuchen erbettelt hatte. Aber sein Kumpel sah danach aus, als könnte er etwas Süßes vertragen. Der Blick jedoch, den er auf die Tüte warf, ließ Jannik seine Großzügigkeit sofort bereuen.
„Bitte sag mir, dass du das Zeug nicht hast mitgehen lassen“, sagte David leise. „Das fehlt mir bei dem ganzen Ärger: ein überführter Dieb, den ich vom Polizeirevier abholen darf.“
Entgegen dem ängstlichen Wimmern seines Wolfes schnappte Jannik sich einen Stuhl und setzte sich gegenüber seinem Freund hin. „Mach mal halblang. Auf dem Weihnachtsmarkt ist der Teufel los, die halbe Stadt ist unterwegs, um noch irgendwelchen Krams für den Heiligen Abend zu organisieren. Immer auf den letzten Drücker. Die Standbesitzer machen heute dem Umsatz ihres Lebens, da fällt so eine milde Gabe gar nicht weiter ins Gewicht.“
„Ich glaube, du hast die Sache mit den Geschenken an Weihnachten irgendwie nicht richtig begriffen“, schoss David zurück. Seine Stimme verriet jedoch, dass er mit den Gedanken bereits woanders war. Seine Finger wirbelten den Bleistift herum und eine Sekunde später war er erneut ins Zahlengewirr vertieft.
Nach und nach fielen Davids Bewegungen zunehmend spärlicher aus, bis er letztendlich stocksteif dasaß. Janniks Wolf, der sich in der Stille wieder hervorgewagt hatte, warf einen Blick auf seinen Anführer und verzog sich schlagartig mit eingezogener Rute in den tiefsten Winkel von Janniks Seele. Jetzt erkannte der Junge es auch: die Schlagader an Davids Hals war deutlich hervorgetreten und pulsierte wild. Kein gutes Zeichen, gestand Jannik sich ein und fing an, unruhig auf dem Stuhl herumzurutschen. Als David einen Strich unter das Ergebnis seiner Rechnerei setzte und die Mine mit einen Knacken abbrach, wäre Jannik vor Schreck fast aufgesprungen und geflohen. Stattdessen entkam ihm nur ein leises Wimmern, das mehr nach einem verängstigten Tier als nach einem Mensch klang.
            Bei diesem Laut zuckte David zusammen und blickte auf. Schlagartig verschwand der bedrohliche Ausdruck von seinem Gesicht. Zurück blieb ein junger Mann mit zerwühltem dunklem Haar, der in den letzten Nächten eindeutig zu wenig Schlaf abbekommen hatte – Janniks engster Freund.
„Wir müssen zusehen, dass wir diesen verrottete Kasten loswerden, bevor es uns auffrisst“, sagte David und rieb sich die Augen.
        Jannik zog seinen Tabakbeutel hervor, nur um ihn gleich wieder wegzustecken. Seine Hände zitterten verräterisch, und obwohl Davids feinen Sinnen weder das hasenhafte Flattern seines Herzens noch der plötzliche Schweißausbruch entgangen sein durfte, wollte er wenigstens seinen Stolz wahren. In einer solchen Situation Zigaretten mit tattrigen Fingern zu drehen, half da wenig. Im Stillen verfluchte er seinen Wolf, der seine Angst jedes Mal schürte, weil das blöde Vieh einfach nicht begreifen konnte, dass David mit der Rolle des Anführers weder Hagens Unberechenbarkeit noch seine Gewalttätigkeit übernommen hatte.
         „Wenn wir das Palais nicht halten können, dann sollten wir es verkaufen. Es kann doch eh keiner von uns diesen hässlichen Kasten ausstehen. Weg damit“, entgegnete Jannik und zuckte lässig mit der Achsel.
      „Einfach so? Mann, hast du eine Ahnung.“ David warf einen weiteren Blick auf seine Rechenaufstellung, dann schlug er die Hand vor die Augen und stöhnte gequält. „Einmal davon abgesehen, dass das Palais ein Schrotthaufen ist, sind Böden und Wände mit Blut und Weiß-der-Teufel-was besudelt. Allein den Audienzsaal müsste man wahrscheinlich entkernen, bevor man ihn einem potentiellen Käufer zeigen könnte. Außerdem hat mein Wolf mich netterweise daraufhingewiesen, dass auch im Innenhof die eine oder andere Überraschung verscharrt liegt. Hagen und seine Gesellen haben eine echte Mördergrube aus dem Grundstück gemacht.“
       „Gut, dann verkaufen wir eben nicht“, erwiderte Jannik, der im Geist eine stolze Palaisbesitzerin sah, die voller Eifer den Sparten schwang, um den Garten ihrer Träume anzulegen und dabei auf einen menschlichen Schädel stieß. „Hagen hatte doch tausend krumme Geschäfte laufen, da muss doch ordentlich Geld reingekommen sein.“
     „Klar, an Geld herrscht kein Mangel, das gibt es quasi säckeweise in Hagens Privaträumen. Aber ich glaube, dass Finanzamt wäre alles andere als begeistert, wenn wir versuchen würden, ihnen die Säcke zur Begleichung unserer Schulden anzudrehen.“ David schnipste die abgebrochene Mine über den Tisch. „Wenn ich ganz doll ‚bitte, bitte’ sage, tut der Weihnachtsmann mir  vielleicht den Gefallen und öffnet ein tiefes Loch im Boden, in dem das Palais samt dem ganzen Mafiageld und der Hehlerware verschwindet.“
        „Ich befürchte, um eine solche Gabe erbitten zu dürfen, hast du in diesem Jahr einfach zu viele Menschen umgebracht.“ Mit Genugtuung stellte Jannik fest, dass sein Wolf vor Angst so erstarrt war, dass er auf diese Frechheit dem Anführer gegenüber nicht einmal mehr zu reagieren imstande war.
David stieß ein trockenes Lachen aus und ging zur Anrichte, wo eine alte Kaffeemaschine vor sich hinätzte. Während er zwei Tassen vollschenkte, musste Jannik beim Anblick seiner hinabhängenden Schultern an Nathanel denken. Die Haltung des alten Mannes hatte sich stets durch eine Mischung aus Kraft und gleichzeitiger Erschöpfung ausgezeichnet. David mochte zwar Hagens Nachfolger sein, aber viel mehr noch war er Nathanels Erbe: voller Verantwortungsgefühl, mit einem breiten Kreuz, auf dem alles ausgetragen wurde. Kein Wunder, dass David sich bevorzugt in der Küche herumtrieb, anstatt eins der herrschaftlichen Zimmer mit Kamin zu beziehen. Die Küche war Nathanels Lieblingsraum gewesen, die geheime Machtzentrale des Rudels.
„Vergiss das Finanzamt“, versuchte Jannik die Sorgen seines Freundes zu zerstreuen. „Heute ist Heiligabend und diese Beamten werden sicherlich erst wieder im neuen Jahr aus dem Winterurlaub zurückkehren. Weißt du was? Wir heizen uns jetzt mit Glühwein an einem der Stände ein und sehen zu, dass wir einen echten Tannenbaum auftreiben. Den bezahlen wir dann mit Hagens Blutgeld, und kaufen gleich noch einen Zweiten, damit Burek was zum Bepinkeln im Garten hat. Und zur Feier des Tages spenden wir die restliche Kohle, wenn wir eh nichts damit anfangen können. Womit wir auch gleich eine gute Tat vollbracht hätten, ganz im Geiste der Weihnacht. Dann machen wir es uns gemütlich, trinken noch mehr Glühwein und wenn wir genug intus haben, heulen wir den Mond an, bis der Weihnachtsmann vor Schrecken vom Schlitten fällt.“
„Klingt wirklich verführerisch.“ David schenkte ihm ein schiefes Lächeln, dann drückte er Jannik einen der Kaffeebecher in die Hand, bevor er selbst einen Schluck nahm. Augenblicklich verzog er das Gesicht zu einer Grimasse. „Das ist eine Teer- und keine Kaffeemaschine“, brachte er gequält hervor, was ihn jedoch nicht davon abhielt, einen weiteren Schluck zu nehmen. „Ich würde wirklich nichts lieber tun, als mir gemeinsam mit dir eine Alkoholvergiftung zu holen, aber ich befürchte, diesen Heiligabend werde ich in der Hölle verbringen.“
Unschlüssig hielt Jannik den Becher zwischen den Händen. Der Kaffee dampfte nicht, wie frisch gekochter Kaffee es eigentlich tun sollte, dafür schwamm eine Öllache obendrauf. „Wieso Hölle?“, fragte er verständnislos.
„Weil ich Meta in einem schwachen Moment versprochen habe, den Heiligen Abend im Kreise ihrer Familie zu verbringen. Mit Kirchenbesuch und allem drum und dran.“ Nun sah David nicht länger nur wegen des Neonlichts elend aus. „Na ja, eigentlich wollte sie ganz gern, dass wir auch die anderen Feiertage gemeinsam verbringen. Das wäre doch die beste Gelegenheit für mich, einmal ihre gesamte Familie kennen zu lernen, hat sie gesagt.“ David schüttelte sich und stellte die Kaffeetasse mit einem ‚Plank’ auf den Tisch, als wäre das Gebräu für sein Schaudern verantwortlich und nicht etwa die Vorstellung, unzähligen, fein herausgeputzten Verwandten von Meta vorgeführt zu werden. „Dummerweise habe ich ihr erzählt, dass jeder aus dem Rudel an den Weihnachtstagen seine eigenen Wege geht. Dass die Feiertage die einzige Zeit im Jahr sind, an denen wir unsere alten Familien besuchen oder Freunde aus Kindheitstagen treffen. Na ja, dass wir uns wie Menschen und nicht wie Wölfe aufführen.“
„Heißt das, du verbringst das gesamte Weihnachtsfest mit Meta?“ Es gelang Jannik gerade so, die Panik in seiner Stimme zu unterdrücken.
David hob hilflos die Hände. „Wir verhandeln noch. Aber ich kann nicht behaupten, dass meine Liebste fair spielt. Sie hat da einige Tricks auf Lager, die es mir unmöglich machen, ihr etwas abzuschlagen.“
„Keine Details, bitte.“ Mit einem Zug leerte Jannik die Kaffeetasse und stand auf.
Auch David sprang auf und packte seinen Freund am Ärmel. „Warum kommst du nicht mit? Wir erzählen einfach, dass du mein Cousin bist – das glaubt uns wegen unserer gleichen Augenfarbe eh jeder. Dann setzten wir uns in eine Ecke und gucken uns das Spektakel an, das Metas Mutter zweifellos inszenieren wird. Die hat garantiert einen Kinderchor eingeladen und die Angestellten des Hauses müssen sich als Weihnachtsgnome verkleiden oder so.“ David versuchte sich an einem überzeugenden Lächeln, das jedoch bloß verzweifelt ausfiel. Unauffällig versuchte Jannik, seine Hand abzuschütteln und linste zur Tür hinüber. „Ach, komm schon. Das wäre ein echter Akt von Nächstenliebe, den du mir gegenüber erweisen würdest. Lass mich nicht allein mit den Reichen, bitte.“
Obwohl David ihn flehentlich ansah, schüttelte Jannik den Kopf. Er hatte bereits einige Geschichten über Metas vornehme und leicht überkandidelte Familie gehört und bezweifelte, dass man ihn entspannt in der Ecke sitzen lassen würde. Dafür war er ein viel zu interessantes Objekt, ein wildes Exemplar aus der Unterschicht. So was bekam man in diesen Kreisen selten aus der Nähe zu sehen. Auch wenn David nicht jammerte, war klar, dass er jedes Mal Blut und Wasser schwitzte, wenn er Metas elitärer Mutter und dem kritischen Blick ihres Vaters ausgesetzt war. Und dabei wusste David so ungefähr, wie man sich in Gesellschaft benahm. Außerdem traute sich eh niemand, dem hochgewachsenen Mann mit der respekteinflößenden Ausstrahlung neugierige Fragen zu stellen. Die würde alle er, der schmächtige Junge in Davids Windschatten abbekommen, wenn diese Meute ausreichend Champagner, Rotwein und was es sonst noch alles bei einem feinen Essen geben mochte, intus hatten.
Allein die Vorstellung an einen vornehm eingedeckten Tisch, an dem man sich ordentlich zu benehmen hatte, mit einem Christbaum im Hintergrund, an dem echte Kerzen brannten, verknotete Jannik den Magen. Das kannte er nur aus Hollywood-Filmen und so sollte es auch gefälligst bleiben. Aber noch schlimmer war die Vorstellung, David im Kreis seiner Familie zu sehen. Denn genau darum ging es bei diesem Heiligabend. David und Meta waren ein Paar und wenn man sich die beiden so ansah, wurde schnell klar, dass sich daran nichts mehr ändern würde – ganz gleich, wie unterschiedlich ihre Leben sein mochten. Obwohl David sich noch mit Händen und Füßen dagegen sträubte, dieses Weihnachtsfest würde zu einer Art Aufnahmeritus in Metas Familie werden. Und dabei hatte Jannik nichts verloren.
          „Danke fürs Angebot, aber ich glaub, dann hänge ich doch lieber bei Esme ab, schaue Cartoons im Fernsehen und esse Kartoffelsalat mit Würstchen.“ Die alte Esme war seit jeher Janniks Anlaufstelle gewesen, seit er dem Rudel beigetreten war.
        „Ich dachte, Esme hätte zum ersten Mal ihre Schwester über die Feiertage eingeladen. Hältst du es für eine gute Idee, da aufzuschlagen? Die beiden Frauen haben sich seit Ewigkeiten nicht gesehen, weil ihre Schwester sich vor Hagen gefürchtet hat. Da ist jeder Wolf ein Wolf zu viel.“
       Jannik, der schon an der Tür war, hielt inne und drehte sich noch einmal um. „Und warum sollte das ein Problem sein? Mein Wolf hat vermutlich mehr Schiss vor Esmes Schwester, als sie vor ihm. Also viel Spaß mit den oberen Zehntausend.“
        Hastig schlug Jannik die Tür hinter sich zu und ignorierte nach Kräften Davids Wunsch, dass er zurückkehren möge, obwohl er an jeder Faser seines Körpers zerrte. Sein Wolf sprang hervor und versuchte das Kommando an sich zu reißen, weil er trotz des Rufs seines Anführers das Palais verließ. „Gib Ruhe, du Verräter“, knurrte Jannik und drängte seinen Wolf gewaltsam zurück. „Immer nur vor Angst rumwinseln, aber wenn David pfeift, sofort losrennen wollen. So nicht!“
      Burek, der draußen bei den Treppen auf ihn gewartet hatte, blickte ihn fragend aus seinen braunen Hundeaugen an.
„Du bist doch nicht gemeint, Kumpel.“ Jannik ließ sich neben dem Mischling nieder und vergrub sein Gesicht in dessen struppigen Fell. An Bureks Halsband klimperten rote Glöckchen, die Esme ihm vor ein paar Tagen mit den Worten „für unseren lieben Weihnachtshundi“ umgebunden hatte. Normalerweise hätte Burek sich als stolzer Straßenköter solch ein Geklimper verbeten, aber bei Esme machte er eine Ausnahme.
Gemeinsam brachen sie auf, ließen schon bald die verwaisten Bürgersteige ihres Viertels hinter sich und hielten auf die belebten Straßen der Innenstadt zu. Überall waren gut gelaunte Menschen unterwegs, schlenderten umher, Tüten mit gebrannten Mandelkernen oder Zuckerwatte in den Händen haltend. Man blieb stehen, schaute überdrehten Kindern mit roten Weihnachtsmannmützen zu und hielt ein Schwätzchen.
Solche Bilder gab es in dieser Stadt tatsächlich nur in der Weihnachtszeit zu sehen, ansonsten mieden die Menschen die Straßen dieser Stadt, als ahnten sie, dass sich Jäger in den Schatten der Häuserschluchten verbargen, die in ihnen jagenswerte Opfer sahen. Vermutlich hatte David Recht, wenn er sagte, dass die Wölfe um diese Jahreszeit ruhten und ihren Hütern dadurch die Möglichkeit gaben, Mensch zu sein. Er selbst konnte das schlecht beurteilen, denn sein Wolf zeigt kein Interesse an der Jagd. Deshalb war es ihm auch noch nie passiert, dass ein Mensch ihn angsterfüllt angeschaut hatte. Erlebnisse, wie David sie mit seiner Mutter Rebekka erlebt hatte, und über die er nie hinweggekommen war, kannte er nicht. Vielleicht aber lag es auch daran, dass Jannik keine Familie kannte.
Er schluckte, als ihm bewusst wurde, dass er keine Ahnung hatte, wo er heute Abend hingehen sollte. Nicht mehr lange, dann würden die Straßen verwaist und die bunt erleuchteten Geschäfte und Stände geschlossen sein. Dann würde er sich seiner Einsamkeit stellen müssen. Gut, da war das Palais, aber vor dem Gedanken grauste es ihm. Er würde allein sein, denn Burek ließ sich nicht einmal mit den besten Leckerlis der Welt in dieses nach Blut und Todesangst stinkenden Gebäude locken.
Mit einem Anflug von Verzweiflung steckte sich Jannik die Stöpsel seines MP-3-Players in die Ohren, weil er die von überall hertönende Weihnachtsmusik plötzlich nicht mehr hören konnte. Leise summte er die Melodie des Rockstücks mit, das David ihm aufgespielt hatte. „Das könnte glatt unsere Hymne sein“, hatte David mit einem Grinsen gesagt. „Die richtige Hymne für uns Wölfe.“


I walk this empty street
On the Boulevard of Broken Dreams
I walk alone
My shadow's the only one that walks beside me


Jannik wollte schon den Weg einschlagen, der ihn möglichst rasch vom gutgelaunten Feiertagstrubel fortbringen würde, doch sein Wolf ließ ihn vollkommen unvermittelt und mit aller Macht an Ort und Stelle stehen bleiben. Wie angewurzelt. Ein kleines Mädchen rannte gegen ihn und aus ihrer Tüte mit Schmalzkuchen ergoss sich eine Ladung Puderzucker auf seinen Parka. Sie schob sich die Mütze aus der Stirn und schaute ihn vorwurfsvoll an. Sie hatte die Pausbacken einer Fünfjährigen, die wegen der Kälte rot leuchten. Der Schal um ihren Hals war mit Rentieren bedruckt. Ihre Lippen bewegten sich, doch Jannik konnte kein Wort verstehen, bis er die Musik ausstellte.
„Was?“, fragte er.
„Man sagt nicht ‚was’, sondern ‚wie bitte’. Und man bleibt nicht einfach stehen. Das ist unhöflich.“
„Klugscheißen auch“, erwiderte Jannik, der die Kleine mit einem Mal gar nicht mehr so niedlich fand.
Bevor das Mädchen etwas erwidern konnte, wurde es von einer Frau an die Hand genommen und weggezerrt. „Hanna, man spricht nicht mit Fremden.“ Die Frau warf Jannik noch einen prüfenden Blick zu und als sie erkannte, das es sich bei ihm um keinen Triebtäter handelte, schenkte sie ihm ein Lächeln und deutete mit dem Zeigefinger auf die Puderzuckerwolke auf seinem Parka. „Sie haben da was.“ Dann verschwand sie samt Hanna auch schon im Gewühl.
Die Versuche, den Puderzucker mit der Hand abzustreifen, führten lediglich dazu, dass der Fleck größer wurde. „Großartig. Sieht aus wie eine Zielscheibe, direkt auf meinem Bauch“, seufzte Jannik. Doch nicht einmal Burek schien sich für seine Sorgen zu interessieren. Der Hund hatte die Ohren aufgestellt und im nächsten Moment jagte er einfach davon. „Burek, komm zurück!“ Das durfte doch einfach nicht wahr sein, nun ließ ihn auch noch sein eigener Hund im Stich. Jannik verschränkte die Hände hinter dem Nacken und zwang sich, tief einzuatmen. Was gar nicht so leicht war, weil ihn ständig schwer bepackte Leute anrempelten. Von Besinnlichkeit keine Spur.
„Hallo, Jannik. Du hast dir aber einen seltsamen Ort für Entspannungsübungen ausgesucht.“
Der Wolf in Janniks Inneren tänzelte vor Freude um die eigene Achse, sodass Jannik gar nicht erst hinsehen musste, um zu wissen, wer vor ihm stand. Eine solche Wirkung auf die Wölfe hatte nur Meta, Davids Freundin. Deshalb hatte sein Wolf ihn also zum Anhalten gezwungen, er hatte ihr unbedingt begegnen wollen.
Meta hatte ihr blondes Haar unter einer Wollmütze gesteckt und statt eines Mantels trug sie etwas, für das Jannik keinen Namen kannte. Eine Art Umhang. Aber es war ganz bestimmt der letzte Schrei, das war es bei Metas Klamotten immer. Wieder einmal staunte er darüber, dass sie sich ausgerechnet David ausgesucht hatte, dessen komplette Garderobe ausschließlich aus Jeans und T-Shirts bestand, und der Anzüge für die Berufskleidung von Bestattungsunternehmern hielt.
„Hallo, Meta“, grüßte Jannik zurück. Bei ihrem Anblick war ihm gleich leichter ums Herz. Sie hielt ein in Zeitungspapier gewickeltes Paket in den Armen und roch nach Gewürztee mit Rum. „Noch auf die Schnelle ein Geschenk besorgt?“
„Das ist ein Adventskranz für Rahel. Sie feiert Weihnachten zwar nicht, aber das heißt ja noch lange nicht, dass sie auf Dekoration verzichten muss. In ihrer Wohnung gibt es nicht einmal einen Nikolaus oder einen Engel, es ist so traurig.“
Rahel war Metas Freundin und jüdischen Glaubens. Jannik hatte eine Schwäche für diese Frau, vor allem für ihre Rundungen, von denen es an Rahel mehr als genug gab. Leider strafte sie ihn die meiste Zeit über mit Ignoranz. Sie hatte nicht viel übrig für Wölfe, und schon gar nicht für solche, die in ihrer Nähe zu sabbern begannen.
In diesem Augenblick trat Rahel dazu und bedachte Jannik sogleich mit einem strafenden Blick. „Dein Hund hat keinen Sinn für Anstand“, ließ sie ihn unumwunden wissen. Sie verpasste Burek, der sich an ihre Beine drängte, einen leichten Klaps auf die Schnauze, was den Hund jedoch nicht davon abhielt, weiterhin an ihr herumzuschnüffeln.
„Hast du dir vielleicht Weihnachtspunsch über die Hose gegossen? Irgendwas an dir muss ja gut riechen“, brachte Jannik als Ausflucht hervor, während er seinen Hund ernsthaft darum beneidete, Rahel so nah zu sein.
Doch anstelle einer Antwort stierte Rahel ihn nur wütend an. Meta, der der kleine Schlagabtausch sichtlich unangenehm war, drückte Jannik das Paket in den Arm. „Halt bitte mal, sonst breche ich noch zusammen. Du musst wissen, dass Rahel sich standhaft weigert, mein Geschenk anzunehmen.“ Nachdenklich musterte Meta ihn. „Was machst du eigentlich heute Abend, Jannik? Willst du nicht bei uns mitfeiern? David uns ich sind bei meinen Eltern, das ist immer wunderschön. Fast wie im Kino. Wäre das nicht was für dich oder hast du schon eine Verabredung?“
„Ich scheiß auf Weihnachten.“ Das kam sehr barsch heraus, aber Jannik hatte allmählich die Nase gestrichen voll, damit konfrontiert zu werden, dass er keinen anständigen Plan für den 24. Dezember parat hatte.
„Gut ausgedrückt, du unkultivierte Bestie“, erwiderte Rahel spöttisch.
Meta seufzte. „Heute blitze ich mit meinen Einladungen auch nur ab. Rahel hat mir ebenfalls einen Korb gegeben. Hoffentlich hat es David sich in der Zwischenzeit nicht auch noch anderes überlegt.“ Kaum dass sie das gesagt hatte, klingelte ihr Handy. Hastig blickte sie auf die Nummer. „Noch einmal Glück gehabt, es ist nur meine Mutter.“ Doch das Lächeln verging Meta schon nach einigen Sätzen. „Notfall“, erklärte sie, sobald sie aufgelegt hatte. „Meine unfassbar idiotische Schwester hat versucht, eine alte Lichterkette anzuschließen und dabei einen Stromschlag erlitten. Es scheint nichts Wildes passiert zu sein, aber meine Mutter steht kurz vorm Herzinfarkt. Ich muss sofort los. Jannik, sei ein Schatz und bring das Paket zu Rahel nach Hause, ja? Frohe Weihnacht euch beiden!“
Meta wartete nicht einmal seine Zustimmung ab, sondern suchte sich bereits einen Weg durch die Menge, sich lautstark selber fragend, wie sie jetzt auf die Schnelle bloß an ein Taxi kommen solle. Offensichtlich glaubte sie nicht an Wunder, nicht einmal an diesem besonderen Tag.
„Ich kann das Paket allein tragen“, behauptete Rahel und wollte es Jannik abnehmen, doch der ließ nicht los.
„Die Chefin hat gesagt, ich soll es zu dir nach Hause tragen“, hielt er mit erstaunlich fester Stimme dagegen, sodass Rahel tatsächlich die Hände zurückzog.
„Hast du denn nichts Besseres zu tun? Mit irgendwelchen Freunden rumhängen, Familie oder so?“
Obwohl es Jannik unangenehm war, seine Ziellosigkeit für den Heiligen Abend zu offenbaren, antwortete er ehrlich: „Nein.“
„Na, dann will ich dich nicht von deiner Pflicht abhalten.“ Rahel schlug zwar einen ironischen Ton an, aber Jannik glaubte tatsächlich Erleichterung auf ihrem Gesicht zu erkennen.
Schweigend ließen sie die sich langsame leerende Innenstadt mit ihren unzähligen Weihnachtsbäumen, dem Lichterkettenmeer und den aus unzähligen Boxen dröhnenden Merry-Christmas-Liedern hinter sich, und kamen in eine Wohngegend mit roten Backsteinhäusern. Die Dämmerung ging in eine sternenlose Nacht über, der Wind frischte auf und trieb Schneeflocken mit sich. Warmes Licht fiel aus den Fenstern, von dem Jannik sich magisch angezogen fühlte. Immer wieder versuchte er in die Zimmer zu spähen, doch die meisten Fenster lagen Hochparterre, sodass er sich lediglich ausmalen konnte, was sich hinter den Wänden abspielen mochte. Extra hübsch zurecht gemachte Kinder mit vor Aufregung geröteten Gesichtern, Väter, die mit würdevollen Mienen den Festbraten zerlegten, Großeltern, die mitten im Getöse im Sessel eingenickt waren. Das flüsterte ihm zumindest seine Phantasie zu, denn in Wirklichkeit hatte Jannik keine große Ahnung, wie man einen Heiligen Abend so verbrachte, dass es sich richtig anfühlte. Die Heiligabende im Heim waren eher deprimierend gewesen und nachdem er zum Rudel gestoßen war, war er meist an einem Mitglied hängen geblieben, dass nicht viel Wert auf Feierlichkeiten legte – ansonsten wäre es ja auch bei seiner Familie oder andere ihm nah stehende Menschen gewesen.
Schließlich blieb Rahel vor einem Wohnhaus stehen und sah zum Himmel empor. „Das mit dem Schnee ist eine schöne Sache, da werden sich die Kids morgen früh vor Freude gar nicht mehr einbekommen. Mein Bruder und ich fanden das jedenfalls immer großartig, wenn Weihnachten Schnee lag.“
„Deine Familie hat also doch Weihnachten gefeiert?“, fragte Jannik, obwohl ihm eine aufsteigende Traurigkeit die Kehle zuzudrücken begann. Die Eingangstür von Rahels Haus war mit roten Bändern und Tannenzweigen geschmückt. Jemand hatte mit weißem Schaum Glocken und Engel auf die Scheiben gezaubert. Grauenhaft kitschig und wunderschön zugleich.
„Warum nicht?“ Rahels Blick war weiterhin nach oben gerichtet. Kurz glaubte er etwas in ihren Augen glitzern zu sehen, dann wendete sie sich auch schon ein Stück von ihm ab. „Es ist das Fest der Liebe, Menschen feiern es überall auf der Welt. Es geht in erster Linie darum zusammenzusein, der Kälte und Einsamkeit des Winters etwas entgegenzuhalten.“
„Dann verstehe ich nicht, warum du Metas Einladung ausgeschlagen hast.“
Rahel senkte den Blick und der Ausdruck auf ihrem Gesicht traf Jannik so unvermittelt, dass er einen Schritt zurücksetzte. Trauer und Einsamkeit, aber auch der feste Willen, sich davon nicht kleinkriegen zu lassen. Sie hatte ihre Freundin abgewiesen, weil sie es nicht ertragen hätte, bei der Feier nicht dazuzugehören, außerhalb des Kreises zu stehen. Während Jannik sie ansah, war ihm, als wenn er in einen Spiegel blickte.
„Weihnachten ist nichts für einsame Wölfe wie uns beide“, bestätigte Rahel seine Vermutung. Sie versuchte sich an einem tapferen Ausdruck, doch irgendwo hinter den erleuchteten Fensterscheiben setzte eine Familie zum Singen an. „Ich habe ‚Es ist ein Ros entsprungen’ schon immer gehasst.“ Sie blinzelte und griff entschlossen nach dem Paket, das Jannik jedoch nicht loslassen wollte. Seine Finger waren wie festgefroren, während der Druck auf seine Kehle stetig zunahm, sodass er kaum noch Luft bekam. Rahel zog noch einmal an dem Paket, dann gab sie auf. „Fein, behalt den dämlichen Adventskranz eben. Ich weiß eh nicht, was ich damit anfangen soll. Schönen Abend noch.“ Mit einer ruppigen Bewegung drehte sie sich um und verschwand im Hausflur.
Jannik blieb mit dem in Zeitungspapier eingeschlagenen Kranz stehen, bis er feststellte, dass Burek nicht neben seinen Füßen saß. Der Hund musste Rahel gefolgt sein, als sie die Haustür aufgestoßen hatte. Jannik schluckte schwer, dann noch einmal. Bevor die Einsamkeit die letzten Dämme seiner Selbstbeherrschung einreißen konnte, ging auf der oberen Etage ein Fenster auf und Rahels Lockenkopf kam hervor.
„Dein Köter liegt auf meinem Sofa und weigert sich runterzugehen“, ließ sie ihn wissen. „Warum kommst du nicht hoch und setzt dich neben ihn? Also ... falls du da unten nicht festgefroren bist. Dann zünden wir diesen albernen Kranz an, damit Meta zu guter Letzt doch noch ihren Willen bekommt.“
Ohne seine Antwort abzuwarten, knallte Rahel das Fenster zu. Einen Moment blieb Jannik noch mit erhobenem Gesicht stehen, schloss die Augen und spürte, wie einzelne Flocken auf seinen brennenden Wangen landeten. Eine zärtliche Berührung, genau so fein wie der Klang der hohen Kinderstimmen. In seinem Inneren grummelte der Wolf ermunternd, bevor er sich zur Ruhe legte. Mit schnellen Schritten war Jannik bei der Eingangstür und durch sie hindurch. Draußen glitzerte die feine Schneedecke im Licht der Laternen und bedeckte nach und nach seine Spuren.

Montag, 12. August 2013

Trailerdreh mit Walfischknochen


Der Norden Deutschlands steht für Weite: glattgestrichenes Land bis zum Meer Und selbst wenn man an der Küste angelangt ist, muss man erst einmal breite Sandstrände und das Watt überwinden, um ans Wasser zu gelangen. Genau diese Weite ist es, die mich am Norden so sehr fasziniert, dass sie der Boden ist, auf dem mein neuer Roman „Das Geheimnis des Walfischknochens“ baut.

St. Peter Ordings Traumstrand
Bei meiner Fahrt im winterlichen März dieses Jahres nach Sankt Peter Ording, in dessen Dünen mein Verlag einen Trailer von der Agentur bürosüd drehen lässt, ist von dieser Weite allerdings nicht viel zu sehen. Jedenfalls nicht, solange ich als Autofahrerin brav nach vorn blicke. Dort sehe ich nur einen Traktor nach dem nächsten, die ich mich nicht zu überholen traue, obwohl die Einheimischen es mir mit waghalsigen Überholmanövern vormachen. Nein, da schleiche ich lieber hinterm Güllewagen her und fühle mich meiner Heldin Greta Rosenboom verbunden, für die jede Autofahrt eine Herausforderung darstellt. Außerdem ist es ein schöner Frühlingsmorgen auf ganz klassische Küstenart: Nebel liegt über den Feldern und Wiesen, während sich am Himmel die Sonne durch den Dunstschleier kämpft und diese einzigartig gedämpften Farben mit Goldstich zaubert. Nur die tickende Uhr macht mir zu schaffen, denn eigentlich sollte ich schon längst im Surferparadies Schleswig-Holsteins angekommen sein. Für die geplanten Foto- und Drehaufnahmen haben wir nur einen Tag Zeit.
Wenigstens ist der Wettergott gnädig und lässt nach Monaten des Dauerschneefalls und einer festbetonierten grauen Wand vorm Himmelszelt die Sonne scheinen, als ich endlich beim verabredeten Hotel ankomme. Da fällt es mir nicht schwer, gut gelaunt zu lächeln, obwohl mir dieser Termin – ehrlich gesagt – ziemlich schwer im Magen liegt. Dass bedingt nicht allein die Aufregung, die eigene Geschichte, mit der man viele Monate gerungen und gelebt hat, nun plötzlich in Bilder verwandelt zu sehen. Nein, es ist vielmehr die Tatsache, dass ich Kameras nur mag, wenn ich hinter ihnen stehe. Glücklicherweise bringt mich die sensationelle Aussicht des Hotelzimmers, in dem das Interview gedreht werden soll, prompt auf andere Gedanken: kilometerweit erstrecken sich die Salzwiesen St. Peters bis zum Strand, hinter dem sich ein Streifen Blau abzeichnet. Blau wie die Hoffnung, rede ich mir Mut zu.


Christiane wirkt ihre Magie
Derart beflügelt lasse ich mich von der Visagistin Christiane Theeß auf einen Stuhl befördern und darf eine Zeit lang gar nichts tun. Nur klappt das leider nicht. Vor mir sind unzählige Pinsel, Tuben und Döschen aufgebaut und besonders letztere üben eine magische Anziehungskraft auf mich aus. Allein diese schwarz glänzenden Deckel ... Lauter hübsch verpackte Schätzchen, von denen jeder erkundet werden möchte. Außerdem ist Christianes Arbeit schlichtweg zu faszinierend. Was sie mit meinem Gesicht anstellt, hat wenig mit dem zu tun, was ich morgens gelegentlich vorm Spiegel praktiziere. Hier wird mit Farben gearbeitet, als sei mein Gesicht ein Gemälde. Und genauso sieht das Ergebnis letztendlich auch aus: ein wahres Meisterwerk! Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich keine Augenringe und sogar meine vom letzten Winter arg geplagte Schnupfennase ist nicht einmal einen Hauch gerötet.
Unterdessen läuft die Zeit, denn bis zum Mittag müssen wir mit den Innenaufnahmen fertig sein. Während ich dem Farbrausch fröne und Christiane Löcher in den Bauch frage, bauen Andreas Pavelic und Anita Curic von bürosüd die Kamera auf. Als ich mich vor diesem wuchtigen Apparat wiederfinde, ist meine soeben erworbene Selbstsicherheit erst einmal dahin, bis Christiane mir ein paar Gesichtslockerungsübungen vorführt. Die kann ich zwar nicht nachmachen – oder können Sie die Lippen zu einem Pferdwiehern schlabbern lassen? Nun, ich kann das nicht – aber das Lachen hilft auch beim Lockermachen. Und noch mehr, dass sich die beiden Ladies neben der Kamera postieren und aufmunternd lächeln. Also lächle ich zurück und erzähle vom „Geheimnis des Walfischknochens“.
Seewind - ein Fotografenschreck
Nach einer Mittagspause im Strandrestaurant Arche Noah (wer seine Pasta gern so scharf mag, dass ihm die Ohren glühen, ist hier richtig) am Ende der Badbrücke wagen wir uns in den auffrischenden Nordwind, um Fotos zu machen. Der Versuch, die Wollmütze abzunehmen, endet mit dem beeindruckenden Abflug meiner Haare in Richtung Firmament. Die Mütze also rasch wieder auf den Kopf, denn auf so einem Autorenfoto ist es schon fein, wenigstens etwas Gesicht vor lauter Flatterhaar zu sehen. Am Strand lebt Andreas als Fotograph richtig auf, gelockt vom sensationellen Licht, in dem selbst verwittertes Holz großartig aussieht. Währenddessen lerne ich, dass Fotographen immer noch etwas einfällt. Anstatt ein paar Minuten entspannt in die Kamera zu lächeln, umkreise ich einen Pfahl, renne zu einer Schaukel und wieder zurück, drehe mich nach links, drehe mich nach rechts, während Anita sich mit einem Reflektor abmüht, den der Wind offenbar für einen Drachen hält, und Christiane mit stoischer Gelassenheit meine zerzausten Haare einzufangen versucht.
Dieses Spiel setzen wir am Nachmittag im beeindruckenden Dünengürtel ein wenig außerhalb fort, während der Wind an Schärfe gewinnt und einem Sand in die Augen treibt. Aber das kümmert mich mittlerweile nicht mehr, Andreas hat mich angesteckt mit seiner Schwärmerei vom sagenhaften Nachmittagslicht an der Nordsee, auch wenn wir mit den langen Schatten kämpfen, die wir werfen.
Das berühmt-berüchtigte Nachmittagslicht

Letztendlich komme ich trotz aller Motivation zu der Erkenntnis, dass die Arbeit eines Fotomodels wirklich harte Arbeit ist, egal wie spannend die Umgebung und Ideen der Leute im Team sind. Fotomodel Tanja sehnt sich plötzlich nur noch nach Wärme und einem heißen Kakao, dem besten Mittel gegen Nordwind. Dann taucht endlich die Ablösung auf: an der Wasserkante läuft ein Hund entlang. Möglichweise der alte Pirat aus dem „Walfischknochen“? Andreas und Anita beschließen, dass dieser Hund unbedingt gefilmt werden muss und entlassen Christiane und mich mit einem begeisterten Blitzen in den Augen, mit den Gedanken schon bei dem nächsten lohnenden Motiv. Wir beiden Mädels nutzen die Chance und spazieren zurück durch die Dünen, darüber plaudernd, dass wir unbedingt hierher zurückkommen wollen – zu den Salzwiesen und breiten Sandstränden von St. Peter Ording. Allerdings erst im Sommer, wenn die Sonne nicht bloß scheint, sondern auch wärmt ...


Donnerstag, 3. Mai 2012

Schattenschwingen-Nachwehen


Grün wie die Hoffnung

Nun ist er also in der Welt, der Abschlussband der „Schattenschwingen“-Trilogie. Ein finales Finale. Finaler geht es nicht, richtig? 
Als ich im letzten Herbst in Richtung „die letzten hundert Seiten“ durchgestartet habe, gingen mir oft Gedanken durch den Kopf wie „Nur noch ein paar Buchstaben, dann bist du raus aus der Geschichte. Das war es dann mit der Sphäre, St. Martin und all den Figuren, die dir drei dicke Bücher lang ans Herz gewachsen sind. Es wird Schluss sein mit deinen ganz persönlichen Engeln. Aber so ist das, ordentliche Geschichten verlangen nach einem ordentlichen Ende. Und für die Schwingen ist es jetzt soweit. Also reiß dich zusammen und tu es.“
Ich habe mich zusammengerissen, aber nicht gern. Ehrlich gesagt, mit viel Gejammer und Geheule. Ein wenig erleichtert hat es mir die Geschichte selbst, weil sie ein solches Tempo an den Tag legte, dass ich kaum Gelegenheit hatte, Taschentücher vollzuschluchzen. Und plötzlich lag „Zeit der Geheimnisse“ schon im Lekorat, die Fahnen wehten herein ... und dann war das Buch auch schon da.
Der Vergleich ist alt und oft genutzt, aber er stimmt einfach: Bücher kriegen und Kinder schreiben - das ist sich beides sehr ähnlich. Zu Anfang ist einem schwummerig vor Aufregung, dann kommt eine entspannte Phase, die gern immer so weiter gehen könnte („Hey, ich und das Baby/Buch sind echt ein lässig eingespieltes Team. Ist ja toll, so kann das bleiben“) - was sie natürlich nicht tut. Wenn der Gipfel langsam ist Sicht gerät, wird es nämlich ungemütlich bis arg anstrengend („Die Schwerkraft hasst mich und meinen Bauch!“ respektiv „Wann haben sich bloß diese ganzen Figuren eingeschlichen, die nun plötzlich superwichtig sind? Die passen unmöglich durch das Finale!“). Man wünscht sich, endlich den Rückwärtsgang zu finden, den es natürlich nicht gibt. Ha, sonst hätte man den bereits vor den Abi-Prüfungen ausgiebig bedient, um die vier Wochen Bummelanz durch intensive Lernerei auszutauschen. Außerdem ist da noch die überfallartig auftretende Frage, was man sich eigentlich bei dem Unsinn gedacht hat. Bücher in die Welt setzen, dass sollen doch bitteschön die anderen machen! Ich war eindeutig nicht klar bei Verstand, als ich mich dazu entschlossen habe, die Sache hier durchzuziehen ... Ich will zu meiner Mama! Irgendwann übernimmt dann der Lauf der Dinge, es flutsch quasi von allein, und nach all den Mühen, Zweifeln und Schokokeksen hält man endlich sein Buch in den Armen und weiß, es war die ganze Mühe wert.
Ab diesem Moment sind Babys klar im Vorteil, denn sie halten die Mama dermaßen ordentlich auf Trapp, dass sie gar nicht erst auf dumme Ideen kommt. Bücher sind da anders. Vor allem Trilogien. Und ganz besonders die „Schattenschwingen.“
Seit meine Kiste mit „Zeit der Geheimnisse“-Belegen eingetroffen ist, arbeitet es in mir.
Das soll wirklich schon alles gewesen sein?, flüstert mir eine verzerrte Stimme zu.
Als ob ich auf den Trick mit dem Stimmverzerrer reinfalle: es ist meine Muse. Für gewöhnlich freue mich, wenn sie mir etwas zu erzählen hat, in diesem Fall jedoch nicht, also steckte ich die Zeigefinger in meine Ohren und singe „Erzähl es jemand anderen, jemanden mit viiiiel Zeit, tralalala.“ Leider ist diese Technik Mumpitz, wenn die Stimme im eigenen Kopf erklingt. 


Nun tu mal nicht so, du willst es doch auch.
Klar will ich es auch, aber wir alle wissen, wie eine solche Nummer endet: mit Heißhunger, Schwerkraftproblemen und Aua ... Halt, das war beim echten Baby. 
„Trallalala.“
Alles was ich will, ist einen Vorschlag zu machen, wie die „Schattenschwingen“ fortgesetzt werden könnten. Betonung auf „könnten“, niemand zwingt dich dazu, Schreiberling. Es ist nur ... Schließlich wird es ab dem dritten Band erst so richtig spannend  (ACHTUNG: SPOILERGEFAHR! Wer den dritten Band noch nicht kennt, sofort mit dem Lesen aufhören und Tralala singen). Meine Idee für eine Fortsetzung basiert auf der schwarz-weißen Traumwelt, die etwas über den Ursprung der Schattenschwingen andeutet: Weiß kämpft gegen Schwarz. Wenn sich Sphäre und Menschenwelt nun einander annähern, so wie Mila & Sam es tun, dann – jetzt kommt der Knüller – kommt es zu einem Ungleichgewicht und eine bislang unbekannte Welt tritt auf den Plan. Eine richtig finstere und böse Welt.
Ich lasse die Zeigefinger sinken. „Eine böse Welt?“
Eine bedeutungsvolle Pause. Die Muse weiß ganz genau, dass sie mich am Wickel hat. Und dann holt sie zum Endschlag aus. Wolltest du nicht schon immer mal über deine ganz privaten Teufel schreiben?
Bescheunigter Herzschlag, feuchte Hände. „Ja, ja, ja! Nur wann?“
Genau in diesem Moment verabschiedet sich die Muse, mit Zeitplänen will sie nichts zu schaffen haben, die haben dieselbe Wirkung auf sie wie das Weihwasser auf den Teufel. Aber ich sitze allein mit beidem da: einer Idee und einem proppevollen Zeitplan, in dem definitiv keine vierten Bände in den nächsten Jahren vorgesehen sind. Sogar wenn ich das Schlafen ab sofort einstelle, wird es nichts vor 2015 werden. Schrecklich, aber wahr.

Eine gute Sache hat es, wenn man mit einer Idee schwanger geht: im Gegensatz zu „echten“ Schwangerschaften kann man sich einen Schnaps gönnen. Denn brauchte ich nach dieser Unterredung dringend.

Die 2 dahinten, das sind doch ...