Mittwoch, 10. Dezember 2014

Die alte Angst


Eine der häufigsten Fragen überhaupt, die Autoren zu hören bekommen, lautet: Warum schreibst du eigentlich?
Vor der Antwort drücke ich mich normalerweise oder rette mich in Phrasen wie „Weil es Spaß macht“. Stimmt natürlich, verrät aber nicht die wahre Motivation. Die wichtigen Dinge im Leben haben in ihrem Ursprung wenig mit fun und Lustigsein zu tun, sie speisen sich aus tieferen Schichten. Ich liebe meinen Mann ja nicht deshalb, weil ich mich so gut mit ihm amüsiere. Und der Garten wird auch nicht gepflegt und gehegt, weil das Unkrautzupfen mir Jubeljauchzer entlockt. Spaß ist ein netter Nebeneffekt bei Dingen, die man selbst dann nicht seinlassen kann, wenn der Spaß sich längst verabschiedet hat. So ist das eben auch mit dem Schreiben.
Allerdings habe ich mir selbst auch lange Zeit keine Antwort auf diese Frage gegeben. Diese Weigerung lässt sich wunderbar verpacken in den Aberglauben, dass gute Geister besser im Verborgenen wirken. Warum einen Gedanken an etwas verschwenden, das plötzlich mit voller Wucht in mein Leben getreten ist und es seither bestimmt? Ja, warum bloß ...
Einen ersten Verdacht, was es mit diesem unvermittelt ausgebrochenen Verlangen, eigene Geschichten zu schreiben, auf sich hat, kam mir mit der Idee zum „Walfischknochen“. Die Geschichte von Ruben und Arjen war nicht nur so dominant, dass ich beschloss, mich in einem neuen erzählerischen Wasser zu tummeln. Sondern auch weil ihr zwei Impressionen vorweggingen, die mich so stark berührten, dass sie mich bis heute mit überwältigender Intensität anrühren. Eins dieser Bilder habe ich bereits in der Danksagung des „Walfischknochens“ beschrieben: Ein blonder Junge klettert aus einem Fenster, durch das die Sonne einfällt, sodass er einer Erscheinung gleicht. Ätherisch, kaum einzufangen in seiner Leichtigkeit. Er wirft noch einen Blick über die Schulter und in seinem Gesicht ist dieses Lächeln, das ganz für den Moment steht, für Unbeschwertheit und Glück. Dieses Bild gibt den Romanauftakt, seinen Abschluss findet er jedoch in einem zweiten, weitaus eindringlicheren Bild: Der Junge liegt leblos am Boden. Es ist unwichtig, was geschehen ist, entscheidend ist die Erkenntnis, dass der Tod den Schlusspunkt setzt. Alles, was diesen Jungen ausgemacht hat, ist vorbei. Die Erinnerungen werden ihn nicht wieder lebendig machen, auch das Aufschreiben seiner Geschichte nicht, die gehört nur denjenigen, die noch am Leben sind. Trotzdem habe ich genau das getan, seine Geschichte aufgeschrieben. Dabei habe ich mir eingeredet, dass ich es vor allem tue, um diesen ersten goldenen Moment einzufangen, diesen Augenblick, in dem alles möglich scheint, den man geradezu schmecken und wie Sonnenlicht auf der Haut spüren kann.
Es hat noch einen weiteren Roman gebraucht, bis ich verstanden habe, dass es der Schlussakkord des „Walfischknochens“ war, der mich von Anfang an zum Schreiben angetrieben hat. Oder vielmehr: er hat mich vor sich hergetrieben, regelrecht gejagt. Und ich hatte geglaubt, ich könnte ihm entkommen, wenn ich mich im Erzählen verliere. Nun, trotzdem war das Ende das Ende. Hinter dem Schreiben verbirgt sich nämlich nichts anderes als die alte Angst vorm Tod. Nicht vorm persönlichem Aus, dem die meisten Menschen ja erstaunlich gelassen entgegensehen. Es ist die Erkenntnis, dass alles endet, egal wie lebendig es war. Auch blonde Jungen, die lachen. Natürlich wurde diese Wahrheit schon oft in Worte gefasst, sie klingt geradezu abgegriffen. Ich bin mir nicht einmal sicher, wie ich auf dieses „Wir erzählen, weil wir den Tod fürchten“ vorher reagiert habe, vermutlich mit dem handelsüblichen Schulterzucken, mit dem man Kalenderweisheiten abtut.
In dem „Haus am Fluss“, an dem ich das ganze Jahr über gearbeitet habe, erzählt meine Heldin Marie, dass sie nach der Geburt ihres Sohnes lange Zeit unter der Angst litt, sie könnte eines morgens aufwachen und das Kind tot im Bett liegend vorfinden. Diese Angst war die erste große Verletzung, die sie im Leben erfahren hat, nicht vergleichbar mit dem ersten Liebeskummer oder dem Auszug von Zuhause. Es kratzt an unserem Grundvertrauen, wenn wir begreifen, dass es nicht mehr als einen Zufall braucht, um ein Leben auszulöschen. Und es kann eben unerträglich sein, mit dem Wissen, was es nicht mehr gibt, leben zu müssen. Wir können den Umstand hinnehmen, in seiner Reinheit aber kaum auszuhalten. Als ich über Maries Angst, ihr Kind zu verlieren, schrieb, fiel mir wieder ein, wann ich mit dem Schreiben begonnen hatte. Mein Sohn hat ungefähr mit vier Monaten solange durchgeschlafen, dass ich genug Zeit fand, den Laptop zu öffnen und Spaß zu haben. Manchmal muss man über ein Dutzend Romane schreiben, um zu begreifen, was man da eigentlich tut.