Montag, 28. November 2011

Alle tot. Eine Lesung mit Antonia Michaelis

Autofahren kann eine schöne Sache sein, vor allem wenn man gerade eine Trilogie zum Abschluss gebracht hat. Na ja, in diesem Fall zumindest die Rohfassung, aber das ist doch auch schon mal was. Der letzte Satz klingt noch nach, als ich den Motor starte. Daran wird sich noch eine Weile nichts ändern, denn er wird vermutlich nicht der letzte Satz bleiben. Da muss ich noch mal ran, grüble ich. Ein Ende zu schreiben, hat ja etwas Befreiendes, aber man läuft halt auch Gefahr, sich von der Geschichte befreien zu wollen. Deshalb heißt es in den nächsten Wochen: lesen, polieren, umschreiben, noch einmal lesen, sich eingestehen, dass dieser Abschnitt Schrott ist, schrauben, basteln, anpassen etc.
Jetzt ist aber erst mal Freitagabend und mein einziger Job besteht darin, den letzten Satz aus meinen Kopf zu bekommen und anständig Auto zu fahren. Draußen ist es stockfinster, ich drehe die Musik lauter und singe mit. Nur leise, wir wollen ja niemanden erschrecken. Die Lesung, zu der es geht, findet in Sarstedt statt. Über Sarstedt kann ich nicht viel sagen, weil es dort ebenfalls ordentlich dunkel und vor allem menschenleer ist. Ähnliches gilt – Gott sei dank - nicht für den Lesungsraum, der aussieht wie ein kleines leerstehendes Geschäft, das jemand mit Stoffbahnen, Kerzen und einem roten Sessel in einen Ort verwandelt hat, in dem Autoren Märchen erzählen dürfen und wollen.
Antonia Michaelis liest
Die Märchenerzählerin dieses Abends heißt Antonia Michaelis und kämpft mit der Beleuchtung, sie will während der Lesung nämlich nicht in dem vorgesehenen roten Sessel sitzen. Was das genau bedeutet, wird das werte Publikum schon einige Minuten später herausfinden. Nix mit „Wir machen es uns jetzt mal richtig hübsch kuschelig und gemütlich, ist ja schließlich eklig kalt draußen vor der Tür“. Nee, Antonia sagt was zum Cover des Romans (Mädchen außen drauf, innen drinnen weg, hinten eine Schusswaffe – was bedeutet das, mh?), sagt, dass sie von oben rechts auf der Landkarte kommt, sagt dann noch rasch ein paar andere Dinge, die ich verpasse, weil ich einen Schluck Rotwein nehme. Das halbe, autofahrerfreundliche Glas – nicht dass sich hier jemand Sorgen macht.
Dann legt sie los, wortwörtlich, mit dem „Märchenerzähler“ in der Hand, stehend, jeden Satz mit Gesten untermalend, und mit einer Stimmgewalt, die wie geschaffen ist für große Theatersäle, aber einen Raum mit gut fünfzehn Leuten regelrecht überrollt und das Brummen des Heizlüfters locker an die Wand spielt. Aus meiner Sicht ist das Ganze ein wildes Schattenspiel, die in Schwarz gekleidete Autorin mit ihrer Ausdrucksfreude und dem gleißenden Lampenlicht, das ihren Umriss entweder hart umkränzt oder mich blendend. Erwartet irgendwer derartig viel Smackes bei einer Autorenlesung? Öfter mal was Neues, denke ich mir. Denn die letzten Lesungen, die ich besucht habe, waren vom Ton her eher zurückhaltend und zuhörerverbraucherfreundlich gestaltet. Bei Antonia ist das anders, da wird nicht nur die imaginäre Zigarette weggeschnipst, sondern auch das R ganz klassisch gerollt und betont, betont, betont. Spätestens, wenn sie das Wort Blut dicht vor einem stehend ausstößt, dass man ein Echo zu hören glaubt, zuckt die erste Reihe kollektiv zusammen und spinnt fleißig Fluchtszenarien, falls die Sache außer Rand und Band gerät.
Während Antonia den Prolog vorträgt, frage ich mich, wer von uns beiden länger durchhält: sie diese enorme Intensität oder ich mit meinem halben Glas Wein. Zumindest hat sich der letzte Satz der „Schattenschwingen“ verabschiedet und das finde ich großartig.
Langsam überwinde ich meine Verblüfftheit und wundere mich ein wenig über mich selbst. Ich kenne den Roman, aus dem vorgetragen wird. Und Romane verraten stets einiges über ihre Aufschreiber. Habe ich also ernsthaft erwartet, diese Frau Michaelis würde mit überschlagenen Beinen im Sessel sitzen und uns schüchtern durch Anna & Abels Geschichte führen? So etwas passiert einem doch nur, wenn man in einer beschlagenen Seifenblase lebt. Ich entspanne mich also zunehmend und vielleicht entspannt sich die Autorin auch, jedenfalls wird es immer leichter, mich auf ihren Lesungsstil einzulassen. Bei einer Sache bin ich mir allerdings schon nach dem zweiten Kapitel sicher: nach diesem Rausch wird Katerstimmung herrschen. Und das liegt dann nicht nur am theaterreifen und sehr fordernden Vortrag, sondern auch am Text selbst, der einen mitreißt und beschäftigt, bei mir nach über einem halben Jahr noch.
Das Durchhalten wird übrigens durch eine Pause erleichtert, in der es Kakao und Pfannkuchen passend zum Roman gibt - die Veranstalterin Claudia Duval vom Koxinel weiß, wie man Zuhörerinnen glücklich macht ... okay, einen Zuhörer gab es auch. Und da sehe ich es: das Leuchten der Zuhörerschaft. Die anfängliche Verstörung ist in Begeisterung umgeschlagen und der Zucker tut sein übriges. Das ist schon eine feine Sache, denke ich, dass wir uns mitnehmen lassen, obwohl wir erst einmal zurückhaltend reagieren, wenn unsere Erwartungen nicht erfüllt werden. Und davon kreisen ja zur Zeit viele um Romane herum, viele Leser haben ja schon einige wegkonsumiert und Lesungen besucht, sodass ihnen ihre Erwartung zuflüstert „Ich weiß ganz genau, was wir beide mögen, wir wollen uns wohl und gut aufgehoben fühlen und bitte nicht aufgefordert werden, uns auf etwas Unbequemes einzulassen“. Wie gut, wenn einem dann mal nichts anderes übrigbleibt, weil man an der Autorin vorbei müsste, um zum Ausgang zu gelangen. Und die hatte doch vordem Blut so gänsehautmäßig ausgesprochen ...
Antonia Michaelis liest immer noch
Mit vollem Bauch und innerlich gestählt für die zweite Runde, geht es heiter weiter, bis die zwei Stunden Lesung voll sind. Ein Rekord, jedenfalls auf meiner Liste. Und dann die berühmte Frage „Gibt es Fragen?“. Jede Menge, aber sie wollen nicht recht aus einem heraus, jedenfalls nicht aus mir, und auch um mich herum wirken die meisten selig, verliebt, aber auch proppevoll mit Eindrücken. Da lässt man sich dann lieber das eigene Exemplar mit bunten Stiften bemalen und freut sich als Autorin auf die Rückfahrt durch die Nacht, wenn zwar der reinste Stimmentrubel im Kopf herrscht, aber keine davon einer eigenen Figur gehört. Es ist fast wie white noise.


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